Das Familienunternehmen „Gebrüder Samwer“: Was traditionelle Unternehmerfamilien von Rocket Internet und Zalando lernen können

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Es war ein Interview, das für Furore sorgte: Oliver Samwer, CEO der Rocket Internet AG und einer der drei Samwer-Brüder, die über ihren Fund „Global Founders“ viele Unternehmensbeteiligungen im Internet kontrollieren, sprach mit Frontal 21 darüber, dass er sich in einer historischen Linie mit den Familien Grundig, Siemens und Miele sieht.

Seit dem IPO von Rocket und Zalando dürfte das zumindest finanziell bereits Realität sein.

Diese Einschätzung in der Linie historischer deutscher Familienunternehmen wurde von vielen Seiten belächelt.

Man kann über das Innovationsmodell der Samwer-Brüder und ihrer Unternehmen, die aus der Inkubationsmaschine Rocket Internet AG resultieren, geteilter Meinung sein. Viele andere Autoren haben sich darüber bereits die Feder zerbrochen.

Eine neue Perspektive eröffnet sich, wenn man hinterfragt, ob und wenn ja wie die Samwer-Brüder, Rocket Internet und der „Global Founders“ sich in die Reihe deutscher Unternehmerfamilien einreihen lassen, und wenn ja, ob Teile des Vorgehens der drei Brüder evtl. sogar „Lessons Learned“ für etablierte Unternehmerfamilien bereit halten kann.

Aktuell spricht die ganze Welt über das Erfolgsmodell des deutschen Mittelstandes. Gemeint sind Familienunternehmen in über Generationen hinweg auf Basis großen Pioniergeists und dank deutscher Präzision, Umsetzungsstärke, Qualitätsarbeit und technologischem Fortschritt weltweit erfolgreich geworden sind. Vielen Unternehmerfamilien haben sich mittlerweile von ihrem Ursprungunternehmen getrennt oder weiterentwickelt und sind in weitere Märkte und Geschäftsmodelle vorgedrungen. Die besten Unternehmerfamilien haben es geschafft, von Generation zu Generation neue Technologiefelder zu erschließen und Portfolio-Bereiche zu entwickeln, so dass ihr Wohlstand parallel zur wachsenden Mitgliederzahlen der Familie anwuchs. Dies mit „Raketengeschwindigkeit“ weiter zu tun ist die Kernherausforderung für die heranwachsenden Nachfolger.

Beschäftigt man sich mit den historischen Wurzeln erfolgreicher Unternehmerfamilien, so lässt sich herausbilden, dass es oftmals Konstellationen von Brüdern waren, die komplett neue Familienunternehmen hervorbrachten und diese innerhalb kürzester Zeit in der Champions League der Unternehmerfamilien etablierten. Betrachten wir Beispiele wie die Gebrüder Albrecht (Aldi), die Gebrüder Dassler (einerseits Adidas, anderseits Puma), oder die Gebrüder Strüngmann (Hexal), die Gebrüder Chandler (Legatum und Chandler Corp in Asien), oder auch internationale Unternehmerfamilien wie die Rothschilds, die aus Vater und Söhnen entstand, so ist zu erkennen, dass stark zusammenhaltende Brüder, die gemeinsam ein oder mehrere Unternehmen aufbauen, durchaus die Wurzeln erfolgreicher Unternehmerfamilien sein können.

Welche dieser Attribute kann man nun bei den Samwer-Brüdern erkennen, und was können Nachfolgegenerationen bestehender Unternehmerfamilien gegebenenfalls davon lernen?

Es lassen sich insgesamt fünf Themengebiete feststellen:

1. Vision

Der Fall Samwer: Es zeigt sich in dem Zusammenspiel der drei Samwer Brüder, dass absolute Klarheit zur gemeinsamen Vision besteht. A) Man will zum führenden globalen Spieler im Internet außerhalb der USA und Chinas aufsteigen und B) dabei zu Reichtum kommen. Zudem ist man im Geschäft extrem erfolgreich, schützt allerdings die Privatsphäre der eigenen Familie.

Aktuelle Herausforderungen für bestehende Unternehmerfamilien: Viele der traditionellen Unternehmerfamilien empfinden es mit zunehmender Größe der Familie und zunehmendem Fortschreiten der Nachfolgegeneration als sehr schwierig, eine solch integrierte, gemeinsame und klare Vision zu erarbeiten. Ohne diese zugrundeliegende Klärung jedoch, warum man als Familie ein oder mehrere Unternehmen betreibt, und welche Zielvorgaben, die finanziell sein können, aber nicht unbedingt sein müssen, zu verfolgen sind, werden die nachfolgenden Diskussionen und Aktionen schwammig und lassen Raum für Missverständnisse und Konflikte. Zudem geht die Geschlossenheit nach außen oftmals verloren, und Konflikte werden öffentlich ausgetragen, wenn aufgrund fehlender Koordination und der Vision Unstimmigkeiten innerhalb der Unternehmerfamilie entstehen.

Lesson Learned: Eine klare Vision, die über die gesamte Familie einheitlich verstanden und somit von jedem nach bestem Können umgesetzt wird, ist absolute Grundlage erfolgreichen unternehmerischen Handels. Geschlossenheit nach außen gibt hierbei zusätzliche Stärke. Traditionelle Unternehmerfamilien sollten sich fragen, ob sie mit der Präzision einer „Raketen-Mission“ sagen können, was sie alle als Familiäre Einheit in Zukunft unternehmerisch erreichen wollen, und warm.

2. Koordination

Der Fall Samwer: Es zeigt sich im Vorgehen der Gebrüder Samwer, dass sie nach innen absolut koordiniert agieren und nach außen stets als geschlossene Einheit auftreten. Jeder einzelne Bruder bringt sich in die Gesamtkonstellation dort am meisten ein, wo seine Talente und Stärken den meisten Mehrwert erzeugen können. So steht beispielsweise Oliver Samwer als CEO der Gruppe Rocket Internet vor und Marc Samwer bringt sich insbesondere in der operativen Steuerung von Zalando ein. Zudem lässt sich erkennen, dass es den Brüdern nicht darum geht, ob einer häufiger oder weniger häufig in der Zeitung genannt wird, ob einer wichtiger oder weniger wichtig ist als der andere, sondern allein um die gemeinsame Vision und der konsequente und koordinierte Weg dorthin wird angestrebt.

Aktuelle Herausforderungen für bestehende Unternehmerfamilien: In traditionellen Unternehmerfamilien kann es über die Zeit dazu kommen, dass sozialer Status und das „etwas gelten wollen“ einzelner oftmals vor das Ziel des Gesamterfolgs der Familie rückt. Auch hieran entzünden sich oft Konflikte, wenn mehrere Repräsentanten der Eigentümerfamilie in der Öffentlichkeit als besonders wichtig, talentiert, oder auch individuell / rebellisch wahrgenommen werden wollen.

Lesson Learned: Die ständige Koordination und Geschlossenheit der Familie unterstützt die Umsetzung der in 1. definierten Vision. Sie ist die Kernaufgabe der Unternehmerfamilie, wenn Umsetzung erfolgen soll. Ohne diese bleibt eine Vision eine „nette Idee“, und wie Oliver Samwer im Frontal 21 Interview erwähnte, ist Unternehmertum wie der Unterschied zwischen „Aufwachen und Aufstehen. Aufwachen ist mit Ideen [Visionen] spielen, […] Aufstehen ist nochmal was ganz anderes […] das ist schon ein bisschen anstrengender“.

3. Disruption und Regelbruch

Der Fall Samwer: Die Brüder haben sich darauf spezialisiert, mit ihren Unternehmen die vermeintlichen Regeln ganzer Industrien auf den Kopf zu stellen und durch neue Geschäftsmodelle zu ersetzen – oftmals sogar mit einfacheren und weniger technologieintensiven Lösungen als zuvor. So ersetzten sie mit Zalando das klassische Schuh- und Kleidungsgeschäft, das bis dato geprägt war von Einzelhandelsflächen in großen Städten, den VerkäuferInnen an der Kasse und dem Sonderschlussverkauf am Ende der Sommer- oder Wintersaison. Darüber hinaus suchen sie sich Wachstumsmärkte, in denen sie ihre Geschäftsmodelle rasch umsetzen und in denen Sie schnell Marktführer werden können. So sind sie in Südostasien präsent, genauso wie in Afrika oder Lateinamerika.

Aktuelle Herausforderungen für bestehende Unternehmerfamilien: Auch traditionelle Unternehmerfamilien haben oftmals so begonnen: Sie haben sich Märkte gesucht, in denen bis dato noch niemand war, sie haben Regeln durch neue Gedanken und Geschäftsmodelle ersetzt und sie waren stets darauf bedacht, neu aufkommende Geschäftskonzepte rasch zu verstehen und gegebenenfalls für sich selber und mit eigenen Ressourcen umzusetzen. Diese Routine jedoch aufrecht zu erhalten, stellt sich zunehmend als eine der schwierigsten Aufgaben von Unternehmerfamilien heraus. Mit fortschreitendem Wohlstand, dem Aufwachsen in angenehmen Umständen, und dem großen Angebot externer Dienstleister, die Vermögensverwaltung abzunehmen, bedarf es einer starken persönlichen Motivation der heutigen und zukünftigen Generationen, sich stets neuen unternehmerischen Herausforderungen zu stellen und diese mit vollem eigenem Einsatz (operative oder kontrollierend) bis in die Umsetzung zu bringen.

Lessons Learned: Traditionelle Unternehmerfamilien können von den Gebrüdern Samwer lernen, dass eben diese Routine der ständigen Weiterentwicklung der Kern des Geschäfts sein sollte, und nur das ständige Hinterfragen – auch der eigenen Position und „gefühlten“ Regeln – sowie der Vorstoß in neue Märkte und Technologiefelder zumindest ansatzweise eine Versicherung für langfristiges Überleben sein kann. Zudem stellt sich heraus, dass es nicht immer mehr Technologie und Komplexität sein müssen, die erfolgsversprechend sein können. Vielmehr kann gerade das kreative Gestalten neuer Geschäftsmodelle mit gegebenenfalls sogar weniger Technologie und mit leichteren Lösungen der richtige Weg sein. Die vielbeschworene „Weltmarktführerrolle“ wird in Zukunft nur teilweise aus technologischer Komplexität abgeleitet werden können. Sie ergibt sich vielmehr aus dem kreativen Gestalten neuer Geschäftsmodelle und dem brechen althergebrachter Gedankenmuster.

4. Diversifiziertes Portfolio

Der Fall Samwer: Betrachtet man das Portfolio der Gebrüder Samwer, so sieht man, dass über verschiedene Industrien hinweg und in die unterschiedlichsten Phasen einer Industriewertschöpfungskette investiert und dort Unternehmen aufgebaut werden. Verbinden lassen sich jedoch all diese Beteiligungen entlang eines grundlegenden Themas: Der Revolution vieler Industrien durch das Internet. Rund um die Kernkompetenz neue disruptive Geschäftsmodelle sehr schnell aufzubauen, haben die Samwer-Brüder ein weit verzweigtes Portfolio etabliert, in dem aber vielen der einzelnen Unternehmen im strategischen Zusammenhang zu den anderen Beteiligungen stehen. So erreichen sie eine Position, in der sie durch mehrere Unternehmen gegebenenfalls ganze Industriewertschöpfungsketten abbilden und diese dominieren können.

Aktuelle Herausforderungen für bestehende Unternehmerfamilien: Traditionellen Unternehmerfamilien fällt es oftmals schwer, nicht ihre Geschichte, sondern ihre tatsächlichen Kernkompetenzen in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen, diese rigoros in Abgleich mit dem Markt- und Technologieumfeld der jeweiligen Zeit zu bringen, und ggf. anzupassen. Bleibt man in einem Geschäft, das in der Vergangenheit Erfolge brachte, allzu lang, und beschäftigt man sich nicht bewusst damit, welche neuen Industrie-, Markt- und Technologielebenszyklen auf das Unternehmen zukommen, so besteht die Gefahr, dass man aufgrund eines falsch verstandenen Traditionsbewusstseins Industrien, Märkten und Technologien verhaftet bleibt, die rasch an das Ende ihres jeweiligen Lebenszyklus gelangen, insbesondere dann, wenn junge Unternehmen mit dem Kapital wachstums- und disruptionsbewußter Investoren althergebrachte Industriedominanz „zerlegen“.

Lessons Learned: In den Mittelpunkt der Betrachtung von Unternehmerfamilien, die langfristig bestehen und wachsen wollen, sollte in Zukunft nicht nur die ständige Verbesserung bestehenden, traditionellen Geschäfts stehen, sondern auch die bewußte und professionelle Auseinandersetzung mit einem diversifizierten Portfolio, das sich an disruptiven Technologien und Geschäftsmodellen im Umfeld der Kernkompetenzen beteiligt, und parallel zur Generationennachfolge innerhalb der Familie auch die Nachfolge von Industrielebenszyklen und Geschäftsmodellen innerhalb der kontrollierten Unternehmen hinterfragt, und ggf. vom externen Management über den Aufsichts- oder Beirat aktiv einfordert.

5. Führung und Kultur

Der Fall Samwer: In der Zusammenarbeit zwischen den Gebrüdern Samwer als Eigentümern und ihrem Managementteam, das extern besetzt ist, herrscht absolute Interessensgleichheit und man ist sich gemeinsam ganz klar darüber, dass man sich durchsetzen will: Die Nummer eins oder zwei in den jeweiligen Märkten ist die Zielvorgabe gegen die hart gemessen wird. Zudem hält man nach innen auf Basis einer starken Kultur und eines starken Zugehörigkeitsbewusstseins zusammen und verfolgt das klare Ziel, sich entgegen aller externen Einflüsse absolut durchzusetzen. Dieses wurde durch die viel zitierte „Blitzkrieg-Email“ sehr offensichtlich.

Aktuelle Herausforderungen für bestehende Unternehmerfamilien: In traditionellen Unternehmerfamilien war eben diese Unternehmenskultur, der absolute Zusammenhalt und fast schon ein Korpsgeist lange Zeit identitätsstiftend und leistungstreibend. Es stellt sich jedoch heraus, dass in Unternehmerfamilien mit zunehmender Generationennachfolge und der jeweils fallabhängigen Distanz vom kontrollierten Unternehmen und dessen wirklichen Geschäft der Zusammenhalt zwischen den Eigentümern und den operativen Geschäftsführern bzw. Mitarbeitern oftmals allzu groß wird. In Folge geht das Gefühl der Mitarbeiter, dass man „als Teil der Familie“ und gemeinsam für ein größeres Ziel arbeitet, verloren. Dies muss nicht bedeuten, dass man stets in operativer Rolle am Tagesgeschäft teilhaben muss, aber eine Kultur des Zusammenhalts und der Koordination der Interessen zwischen Mitarbeitern und Eigentümerfamilie ist ein Muss, ebenso wie die in 2. Angesprochene Koordination der Familie selbst.

Lessons Learned: Lernen können traditionelle Unternehmerfamilien von den Gebrüdern Samwer, dass der Zusammenhalt, die klare Zielvorgabe und die eigene Hingabe zum unternehmerischen Erfolg Wurzeln einer Unternehmenskultur sein können, in der sich alle für das gemeinsame Ziel einsetzen und gemeinsam an der Vision der Unternehmerfamilie, wie in 1. dargelegt, und deren Koordinierte Verkörperung, wie in 2. Dargestellt, arbeiten.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass das Zitat und die Einordnung Oliver Samwers in die Gruppe erfolgreicher deutscher Unternehmerfamilien der Vergangenheit aus dem Blickwinkel der Stärke einer Unternehmerfamilie durchaus berechtigt sein kann. Auch wenn es zunächst absurd klingt, so lassen sich die fünf oben dargestellten Charakteristika herausarbeiten, die auch in der Vergangenheit vor zehn, fünfzig oder hundert Jahren deutsche Unternehmerfamilien, u.a. eben auch Brüder, erfolgreich gemacht haben und ihnen geholfen haben, große international erfolgreiche deutsche Unternehmen aufzubauen.

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Über Prof. Dr. Marc-Michael Bergfeld 24 Artikel
Marc-Michael H. Bergfeld hat die Professur für Global Family Firms an der Munich Business School inne und ist Studiengangsleiter des MBA General Management. Bevor er zur Munich Business School kam, sammelte Bergfeld internationale Erfahrungen in der Managementberatung und in großen Familienunternehmen, u.a. in Lateinamerika, Großbritannien, Indien und China. 2007 gründete er das Boutique-Beratungsunternehmen Courage Partners Group. Es hilft Unternehmerfamilien und deren Firmen in den Bereichen Strategie, Innovation & Investment, und betreibt das Courage Center an der Munich Business School, das als Think Tank und Ausbildungsinstitut agiert. Prof. Bergfeld lehrt die Schwerpunkte „Corporate Strategy, Innovation & Change“, sowie „International Family Firms“ in den Master- und MBA-Studiengängen an der MBS. Dozenten-Profil bei der MBS