„Ein Mitarbeiter, der sich eine eintägige Auszeit von seinem aktuellen Projekt nimmt, um in dieser Zeit das professionelle Auftreten zu erlernen, erweist sich selbst und dem Unternehmen einen viel größeren Dienst, als es der Fall wäre, wenn er 75, 100 oder 150 Dollar pro Tag für McKinsey & Company erwirtschaftete.“
Marvin Bower (1903-2003), ehemals führender Kopf der weltbekannten Unternehmensberatung McKinsey & Company
Was wäre, wenn einer der größten Geigen-Virtuosen der Welt ein Konzert vor über eintausend Menschen gäbe – allerdings in einer Bahnstation? Ohne Ankündigung. Unerkannt. Und während der Rush-Hour.
Genau diese Frage stellte der US-Journalist Gene Weingarten einem Experten, nämlich dem Direktor des National Symphony Orchestra Leonard Slatkin – und er erhielt folgende Antwort [1]: „Angenommen, man würde ihn nicht erkennen und einfach für einen x-beliebigen Straßenmusiker halten… ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, dass man ihn übersehen würde… ich schätze, von 1000 Menschen würden etwa 35 oder 40 seine Qualitäten erkennen. Vielleicht würden knapp 75 bis 100 stehen bleiben und eine Weile zuhören.“
„Danke, Maestro“, sagte Gene Weingarten und fuhr fort: „Tatsächlich ist das gar keine hypothetische Frage. Es ist tatsächlich passiert.“
„Und, lag ich richtig?“, fragte Slatkin neugierig.
„Das erfahren Sie gleich“, antwortete der Journalist.
„Wer war der Musiker?“
„Joshua Bell.“
„NEIN!“
Oh doch. Just dieses Experiment wurde mit keinem Geringerem durchgeführt als mit eben diesem Joshua Bell, der – erst Ende dreißig – im Zuge seiner märchenhaften Karriere schon als „Wunderknabe“ und „Genie“, mitunter auch als „Gott“ bezeichnet worden war. Bereits mit vier Jahren sollen ihn seine Eltern dabei beobachtet haben, wie er Gummibänder an eine Schublade spannte, um darauf Melodien erklingen zu lassen. Mit 17 trat er bereits als Solist in der Carnegie Hall auf, er spielte mit den namhaftesten Orchestern der Welt, etwa dem London Symphony Orchestra, und wurde mit Preisen regelrecht überhäuft, erhielt den Mercury, den Gramophone und den Echo Klassik, einen Grammy und gewissermaßen sogar einen Oscar: Joshua Bell hatte den Soundtrack zum Film „Die rote Violine“ eingespielt, der einen Academy Award für die beste Filmmusik gewann.
Nur Straßenmusiker, das war Joshua Bell bis zu diesem Januartag im Jahr 2007 noch nie gewesen.
Um kurz vor acht Uhr an jenem kalten Morgen steigt also einer der meist gefeierten Violinisten seiner Generation die Stufen zur L’Enfant Plaza Station in Washington D.C. hinab. Er platziert den Geigenkasten vor seinen Füßen und entnimmt ihm seine Fidel, genauer gesagt eine Stradivari, die der berühmte Geigenbauer 1713 in seiner „goldenen Epoche“ angefertigt hatte, ein Instrument im Wert von knapp vier Millionen Dollar. Bell zückt den Bogen, natürlich nicht irgendeinen, sondern ein Exemplar aus der Werkstatt des Bogen-Meisters François Tourte aus dem späten 18. Jahrhundert. Da steht er nun, dieser schlaksige, jungenhafte Mann, getarnt mit einer Baseball-Mütze. Erst drei Tage zuvor hat er die Boston Symphony Hall bis auf den letzten Platz gefüllt, bei Ticketpreisen ab 100 Dollar.
Und er setzt an – zur Chaconne aus Johann Sebastian Bachs Partita Nr. II, für einen Violinisten das Maß aller Dinge, für den Komponisten Johannes Brahms gar „eines der wunderbarsten, unbegreiflichsten Musikstücke… eine ganze Welt von tiefsten Gedanken und gewaltigsten Empfindungen. Hätte ich das Stück machen, empfangen können“, schrieb Brahms ergriffen, „ich weiß sicher, die übergroße Aufregung und Erschütterung hätten mich verrückt gemacht.“
Ein weltbekannter Violinist setzt also nun mit seiner Stradivari zu diesem epochalen Stück Musik an.
Was geschieht?
Ach ja, eines vorab noch: Im Vorfeld äußerten die Herausgeber der Washington Post größte Bedenken hinsichtlich der Sicherheitslage. Sie befürchteten einen tumultartigen Andrang, die Involvierung der Nationalgarde, um die Lage wieder in den Griff zu bekommen, den Einsatz von Tränengas, Gummigeschossen und so weiter, wahre Schreckensszenarien wurden ausgemalt. Und doch entschied man sich, das riskante Experiment durchzuziehen.
Und tatsächlich geschieht etwas. Allerdings erst drei Minuten und 63 vorbeilaufende Passanten später, und „geschehen“ ist wohl doch ein wenig hoch gegriffen: Ein Mann mittleren Alters verlangsamt seinen Gang und scheint zu bemerken, dass da jemand musiziert. Na immerhin. Schließlich wirft eine Frau einen Dollar in den Geigenkasten, doch sie spurtet sogleich weiter. In den kommenden 43 Minuten bleiben ganze sieben Menschen stehen, stolze 27 werfen Geld in den Koffer – jedoch ohne auch nur einen Moment lang innezuhalten. Niemand applaudiert.
Ein paar Meter weiter, am Lotto-Kiosk, stehen die ganze Zeit eine Menge Menschen an, von denen sich in der knappen Dreiviertelstunde niemand auch nur in die Richtung der Musik dreht. Die Schuhputzerin, eine temperamentvolle Brasilianerin, die ebenfalls nur ein paar Meter entfernt postiert ist, schimpft derweil über den Krach. Wenigstens ruft sie nicht die Polizei, wie sonst. Die Ausbeute: 32 Dollar und 17 Cent (ja, es sind wirklich auch Pennys dabei). Gar nicht übel für einen Straßenmusiker. Immerhin eine Dame erkennt Bell und wirft verdutzt 20 Dollar in den Geigenkasten (nicht in die Gesamtsumme einberechnet, da sie den Stargeiger ja erkannt hat).
Es gibt sechs Momente, die Bell als besonders peinlich empfindet – die Sekunden unmittelbar nach Abschluss eines Stücks: kein Applaus, gar nichts. Bell steht einfach belämmert in der Stille herum und beginnt irgendwann mit dem nächsten Stück. „Es war ein komisches Gefühl“, erinnert er sich später, „dass mich die Leute… na ja… ignoriert haben. Im Konzerthaus werde ich wütend, wenn jemand hustet oder wenn ein Handy klingelt…“
Einer der besten Geiger der Welt spielt also auf einer Stradivari eines der größten Meisterwerke aller Zeiten und es passiert so gut wie nichts. Dabei war man zuvor überaus zuversichtlich gewesen, dass die Menschen wahre Größe erkennen würden, dass der Genius für sich selbst spricht.
Fehlanzeige.
Kompetenz spricht nicht für sich selbst. Sie können die oder der Beste aller Zeiten sein, auf welchem Gebiet auch immer – und kein Mensch merkt es. Womöglich hält man Sie sogar für eine Pfeife. Sie müssen Ihre Kompetenz schon zeigen: also Impression Management – PR in eigener Sache – betreiben.
[1] https://www.washingtonpost.com/lifestyle/magazine/pearls-before-breakfast-can-one-of-the-nations-great-musicians-cut-through-the-fog-of-a-dc-rush-hour-lets-find-out/2014/09/23/8a6d46da-4331-11e4-b47c-f5889e061e5f_story.html