Weitestgehend unbeobachtet von Internetnutzern außerhalb Chinas hat sich im „Reich der Mitte“ hochdynamisch ein chinesisches Internet gebildet. Nach offiziellen Angaben surfen heute 710 Millionen Chinesen im Internet – also rund die Hälfte der gesamten Bevölkerung (damit sind immerhin ebenso viele Personen bislang nicht mit dem Internet in Berührung gekommen! Zur Entwicklung der Nutzerzahlen siehe nachfolgende Abbildung). Doch nicht nur die Nutzerzahlen sind immens. Wie konnte es passieren, dass China heute zu den fortschrittlichsten Ländern beispielsweise bei der Entwicklung mobiler Internetapplikationen zählt? Wie kann es sein, dass China im Fintech-Trend führend ist? Wird die Entwicklung des Internets in China nicht durch die Zensur des Webs maßgeblich beeinträchtigt?
Um Antworten auf diese Fragen geben zu können, lohnt es sich, einen Blick zurück auf die Anfänge des Internets in China zu werfen. Ende der 90er Jahre und Anfang des neuen Jahrtausends waren es vor allem Universitäten und Forschungsprojekte, die einen Ausbau der ersten Internetinfrastruktur mit sich brachten. Verschiedene „Golden Projects“ trugen zu einem staatlich geförderten Netzausbau bei. Dabei hinkten die rechtlichen Regularien darüber, was „im Internet“ erlaubt ist und was nicht, der faktischen Entwicklung immer einige Jahre oder zumindest Monate hinterher (so wie es auch aktuell im Bereich Fintech der Fall ist). Das klassische chinesische Prinzip des „shang you zhengce, xia you duice (上有政策,下有对策)“, wonach die politische Führung Maßnahmen ergreift, die von der Bevölkerung durch Gegenmaßnahmen umgangen werden, führte schließlich zu einem prosperierenden Internet in China.
Online-Handelsvolumen größer als das der USA
Einer letztendlichen Bewertung der Lage des Internets in China kann jedoch nur eine differenzierte Betrachtung gerecht werden (siehe Abbildung unten). Demnach erkannte die chinesische Regierung zum einen bereits sehr früh das ökonomische Potenzial des Internets für die Unterstützung der Wirtschaftsentwicklung des Landes. Gerade, um es Unternehmen zu ermöglichen, über das Internet E-Commerce zu betreiben, wurde die infrastrukturelle Förderung des Internets durch die chinesische Regierung vorangetrieben. So wuchs das Online-Handelsvolumen im Jahr 2015 insgesamt um 33,3% auf 582 Mrd. USD an und übertraf somit dasjenige der USA. Dabei ging es nicht nur um die Förderung des Binnenhandels über das Internet, sondern auch um den Cross-Border Handel. Es wird geschätzt, dass China bis 2020 der größte Cross-Border-B2C-Markt werden wird. Bekannte Plattformen wie Alibaba.com und Tmall.com sind hier in China wesentliche Treiber.
Zum anderen erkannten allerdings erst nachrangig und damit relativ spät die Zentralregierung wie auch die Regierungen auf Provinzebene und lokaler Ebene das Potenzial zur Nutzung des Internets für politische Zwecke. Neben jeder wichtigen Tageszeitung der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua (新华通讯社) nutzten auch die Kommunistische Partei Chinas (中国共产党) sowie diverse Ministerien und Behörden die Möglichkeiten des Internets, um über ihre jeweiligen Tätigkeiten zu informieren. Auf dem Microblogging-Dienst Sina Weibo (新浪微博) wurden inzwischen mehrere hunderttausend Konten von staatlichen Einrichtungen angemeldet. Selbst die Propagandabanner, die in den Städten und auf dem Land an Mauern und Häuserwänden hingen und hängen, haben als „Werbebanner“ den Weg ins Internet genommen.
Vorladung zum Teetrinken
Die in der Öffentlichkeit immer wieder diskutierte Internetkontrolle und -zensur in China betrifft nun vor allem den dritten und letzten, den soziokulturellen Nutzungszweck, also beispielsweise die Veröffentlichung von Nachrichten sowie Social-Media-Aktivitäten. Die Blockierung von Inhalten erfolgt dabei über technische Filter, mehrere Zehntausend Internetpolizisten, die Tag und Nacht das Netz überwachen, und letztendlich auch über Selbstzensur vor dem Hintergrund der Gefahr einer möglichen Vorladung „zum Tee trinken“ (bei der Polizei). Auf den wichtigsten Websites findet sich darüber hinaus ganz unten ein Link, über den Nutzer die lokale Internetpolizei (wie beispielsweise diejenige in Peking) direkt erreichen und auf fragliche Inhalte hinweisen können. Bisweilen betreibt die Zentralregierung, wie vom Journalisten Michael Anti beschrieben, auch eine Form von „Smart Censorship“: Dabei wird für einen bestimmten Zeitraum Kritik zugelassen, die im Sinne der Regierung ist, sodass sich die Regierung diese für Maßnahmen, zum Beispiel gegen korrupte Kader, gesammelt zunutze machen kann.
Deutschland im Verzug
Das chinesische Internet lebt, und vor allem das mobile Internet hat in seinem Angebot inzwischen das Internet außerhalb Chinas klar abgehängt. Das Silicon Valley kopiert inzwischen Funktionen von chinesischen Anbietern (wie Twitter von Weibo) und Deutschland ist in einigen Bereichen (insbesondere beim mobilen Bezahlen) im Vergleich zu China um mindestens drei, wahrscheinlich sogar fünf bis sieben Jahre in Verzug. Es lohnt sich endlich, den Blick nicht mehr ausschließlich auf das Silicon Valley zu richten, sondern unbedingt auf Peking & Co. So können wir uns jetzt schon mit Diensten vertraut machen, die wir in einigen Jahren ohnehin nutzen werden.