Kommt der Brexit? Was ein Ausstieg Großbritanniens aus der EU bedeutet

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Im Rahmen des DBA-Programms fand an der MBS das Doktorandenseminar „Europe and the World“ statt. Hochaktuelle Themen rund um die Europäische Union waren dabei Gegenstand einer wissenschaftlichen, möglichst faktenbasierten Untersuchung anstehender Herausforderungen. Eines der Themen, mit denen sich die Doktorand(inn)en beschäftigten, war der mögliche Austritt Großbritanniens aus der EU.

Der Britain Exit (Brexit) aus der EU ist einmal mehr zum aktuellen Thema geworden: Dieser Tage versammelt sich der Europäische Rat, um darüber zu beraten, wie man auf den britischen Regierungschef Cameron reagieren soll. Dieser hatte die EU mit einigen noch sehr unscharf formulierten Forderungen konfrontiert. Sollten die Verhandlungen zu einem akzeptablen Deal für Großbritannien führen, werde er beim kommenden Referendum der Briten über die EU-Mitgliedschaft ein „Pro“ empfehlen, hatte Cameron mehrfach erklärt.

Die europäische Integration hat bislang daraus bestanden, dass die beteiligten Staaten Schritt für Schritt einen Teil ihrer nationalstaatlichen Souveränität an supranationale Institutionen der EU abgaben: an die Kommission, das Parlament, den Europäischen Gerichtshof. Dabei handelt es sich vor allem um die Zuständigkeiten für die Zollunion, eine gemeinsame Wettbewerbspolitik für den Binnenmarkt und eine gemeinsame Handelspolitik.

19 von insgesamt 28 EU-Staaten einigten sich sogar auf eine einheitliche Währung und verzichteten dadurch – zugunsten der Europäischen Zentralbank– auch auf eine nationale Geld- und Währungspolitik. In einigen der wichtigsten Politikbereiche aber, etwa in der Steuer-, Struktur-, Sozial- und Außenpolitik, haben sich die Mitgliedstaaten zur Koordination ihrer Maßnahmen bereit erklärt.

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Ein wirklich gemeinsames Handeln aber kommt nur zustande, wenn in den beiden zwischenstaatlichen Gremien der EU (dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs und dem Ministerrat, der jeweils problemorientiert aus den Fachministern der EU zusammengesetzt ist) im Konsens oder mit qualifizierter Mehrheit entschieden wurde. In diesem komplizierten staatenähnlichen Gebilde haben sich die Mitgliedstaaten inzwischen beachtliche Integrationsvorteile erarbeitet.

Die Europäische Union ist ein international beachtlicher politischer und wirtschaftlicher Machtblock, innerhalb dessen die Mitgliedstaaten von einer bemerkenswerten Stabilität profitieren konnten. Militärische Auseinandersetzungen innerhalb der Union können als ausgeschlossen gelten, der freie Verkehr von Personen, Dienstleistungen, Gütern und Kapital ist weitgehend real, die politischen Systeme sind demokratisch legitimiert und die wirtschaftlichen Vorteile durch die Union sind vielfältig.

Und nicht zuletzt haben viele Europäer ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt. Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten existieren weiter, aber sie werden durch die Union stetig abgebaut. Der EU-Haushalt von nur etwa einem Prozent des Bruttonationaleinkommens fließt zu 94 Prozent in diverse Fördermaßnahmen, nur 6 Prozent fallen für die EU-Verwaltung an.

Intensivierung des europäischen Handelns

Das Ziel einer immer engeren Union, dass die Mitgliedstaten im Lissabon-Vertrag von 2009 vereinbart haben, könnte für die Zukunft bedeuten, dass die Staats- und Regierungschefs weiterer Intensivierung des einheitlichen Handelns zustimmen. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik erfordert auf längere Sicht eine stärkere Integration der militärischen Kräfte der EU.

Die Wirtschaftsunion der 28 Staaten erfordert gemeinsame Auffassungen über notwendige Maßnahmen zur Förderung von Wachstum sowie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit – und die Durchsetzung dieser Maßnahmen. Die Erhaltung des Binnenmarktes mit seinen immensen Vorteilen benötigt dringend eine gut koordinierte Behandlung der Migration.

Hier ist die Uneinigkeit zwischen den Mitgliedstaaten im Moment am größten. Und hier setzt auch Herr Cameron an: Er möchte die Attraktivität seines Landes für Zuwanderer herabsetzen, indem er sie für vier Jahre von sozialer Absicherung ausnimmt. Das ist mit den gemeinsamen Standards der Union unvereinbar und träfe vor allem Zuwanderer aus Osteuropa. Weiter möchte Cameron Ineffizienzen und bürokratisches Übermaß in der Arbeit der Union beseitigen. Zudem ist er mit dem vertraglichen Ziel „der immer engeren Union“ nicht mehr einverstanden und möchte als nicht am Euro teilnehmendes Land Ausnahmen bei der Ausgestaltung der Wirtschaftsunion erhalten.

Auswirkungen eines Brexit für Großbritannien und die EU

Die DBA-Studierenden der MBS setzten sich während ihres letzten Moduls intensiv mit dem Brexit auseinander. Dabei sollten sie nicht die Position Großbritanniens in dieser Situation untersuchen, sondern die Auswirkungen identifizieren und beurteilen, die ein tatsächlicher Brexit auf Großbritannien selbst und die Union haben könnte. Als Ergebnis stellten die Doktoranden heraus, dass sowohl Großbritannien als auch die EU eher Schaden nehmen würden.

Da Großbritannien innerhalb der EU nicht für mehr Regulation von Märkten, sondern für Abbau von hindernden staatlichen Beschränkungen steht, würde ein starkes Gegengewicht zur französischen, eher dirigistischen Sichtweise künftig fehlen. Bisher waren Deutschland und Großbritannien als Vertreter einer mehr marktwirtschaftlichen Ausrichtung der EU aufgetreten.

Natürlich könnte das komplizierte Ringen um Konsens und Koordinierung einzelstaatlicher Maßnahmen einfacher werden, wenn ein Mitgliedstaat plötzlich fehlte, der sich bisher oft nur zögerlich oder gar nicht vom Nutzen der Gemeinsamkeit überzeugen ließ. Die Achse Deutschland – Frankreich würde weiter aufgewertet.

Hoher politischer Schaden

Der politische Schaden für beide Seiten wurde von den Doktoranden als hoch angesehen. Die internationale Reputation der EU würde zweifellos leiden, falls zum ersten Mal ein Mitgliedstaat die EU verlassen würde – zumal es die Atommacht Großbritannien mit dem zweitgrößten BIP der EU wäre. Ob dadurch die Stellung des EU-Flüchtlings gestärkt würde, wurde eher kritisch gesehen.

Allenfalls die „special relationship“ mit den USA könnte profitieren. Ob die Vereinigten Staaten nicht eher einen anglo-amerikanischen Fuß in der EU-Tür mehr schätzen würden als ein unabhängiges kleines Land, bliebe zweifelhaft. Schottland allerdings könnte zu einem neuen Abspaltungs-Referendum ansetzen. Für die EU würde sich als weiteres Negativum ergeben, dass der Weg zum Austritt das erste Mal gegangen und Nachahmern damit geebnet würde. Die Loyalität von Mitgliedsstaaten zur EU könnte sinken, nationalstaatliches Denken zunehmen.

Wer leidet wirtschaftlich stärker?

Wirtschaftlich wären die Konsequenzen ebenfalls negativ, aber Großbritannien würde wohl stärker leiden. Die EU verlöre mindestens einen großen Nettozahler. Allerdings würden sich die Marktbedingungen für viele britische Unternehmen deutlich verschlechtern, nicht nur für den Londoner Finanzmarkt. Alle Verträge zwischen der EU und den USA würden für Großbritannien nicht mehr gelten, auch nicht zukünftige wie TTIP. Unternehmen könnten abwandern, Märkte verloren gehen.

Von den vielen Vorteilen, von denen die Europäer inzwischen – oftmals ohne ausdrückliches Bewusstsein – profitieren, wurde einer beispielhaft als gefährdet genannt: Die Angleichung der Hochschulausbildung im Bologna-Prozess.

Die Konsequenzen eines Brexit scheinen wohl auch dem überwiegenden Teil der britischen Bevölkerung deutlich zu sein. Jedenfalls zeigen Umfragen einen leichten Vorteil für die Befürworter der EU-Mitgliedschaft. Allerdings wurden in der Runde der Doktoranden Befürchtungen laut, dass eine weitere Verschärfung im Konflikt um die Flüchtlinge die Stimmungslage in Großbritannien kippen lassen könne. Die Gespräche und Verhandlungen der nächsten Tage werden zeigen, ob der Weg der EU und Großbritanniens in Zukunft noch ein gemeinsamer ist.

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Über Prof. Dr. Wolfgang Zirus 22 Artikel
Prof. Dr. Zirus studierte Betriebswirtschaft in Regensburg. Er arbeitete einige Jahre für die Dresdner Bank (Kreditrevision) und machte sich dann als freier Dozent selbständig. In dieser Funktion arbeitete er auch für die Munich Business School, zunächst selbständig, dann als angestellter Dozent. Er promovierte berufsbegleitend an der LMU München über problemorientierte Lernumgebungen. Heute ist Prof. Zirus an der MBS Modulleiter und Dozent für finanzwirtschaftliche Fächer. Er arbeitet daneben weiter als selbständiger Dozent.
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Über Prof. Dr. Heiko Seif 23 Artikel
Prof. Dr. Heiko Seif, PhD. studierte Ingenieurwesen am Karlsruher Institut für Technologie und promovierte an den Universitäten Stuttgart und Preßburg mit einer Arbeit über die Internationalisierung osteuropäischer Unternehmen im Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft. Parallel zu seiner 4-jährigen Promotion arbeitete er als Berater bei der Con Moto Consulting Group bevor er zur BMW Group wechselte. Nach seiner Tätigkeit gründete er die Technologieberatung CNX Consulting und anschließend die Innovationsgenossenschaft INGO e.G. Darüber hinaus war er mehrere Jahre an der Ludwig-Maximilians-Universität verantwortlich für das TOP-BWL-Programm der Jahrgangsbesten in Zusammenarbeit mit Professor Picot. Prof. Dr. Heiko Seif ist Senior Manager bei der Managementberatung UNITY AG.