Tsai Ing-wen (蔡英文) ist die neue Präsidentin Taiwans. Bei der Präsidentschaftswahl am 16. Januar wurde sie von 56,1 Prozent der Wählerinnen und Wähler mit ihrer Stimme unterstützt. Damit hat Tsai Ing-wen Historisches erreicht: Sie ist die erste Präsidentin auf der Insel, die aus der Sicht der Volksrepublik China ein Teil des von der Kommunistischen Partei regierten Landes ist, aus der Sicht des Großteils ihrer Wähler jedoch eine eigenständige, von der VR China unabhängige Einheit bildet.
Während Tsai Ing-wen vor vier Jahren mit ihrer Kandidatur noch knapp gegen den Kandidaten der Kuomintang (KMT), Ma Ying-jeou (馬英九), gescheitert war, findet nun nach acht Jahren Regierung durch Ma Ying-jeou auch ein Wechsel zur Democratic Progressive Party statt (DPP). Denn auch im Parlament erreichte die DPP erstmals in der Geschichte Taiwans die absolute Mehrheit.
Die KMT erhielt damit die Quittung für den rapiden Annäherungskurs an die VR China, die ihr Präsident Ma Ying-jeou in den vergangenen Jahren geführt hatte und der vielen Bürgern Taiwans unheimlich wurde: Alleine 23 Kooperationsverträge wurden in seiner Regentschaft mit der VR China unterzeichnet.
Die Gesellschaften Taiwans und Chinas haben sich seit dem Ende des Bürgerkrieges 1949 auf dramatische Weise unterschiedlich entwickelt. 59 Prozent der Bevölkerung sehen sich heute in erster Linie als „Taiwaner“ und nur 34 Prozent als „Chinesen und Taiwaner“. Nicht zuletzt die Studentenproteste in den letzten Jahren und der Einzug der daraus entstandenen „New Power Party“ in das Parlament Taiwans zeigen, dass gerade die jüngere Generation durch eine eigene Taiwanische Identität geprägt ist – das chinesische Festland ist für sie ein fremdes, tendenziell bedrohliches Land.
Die Folgen des Wahlergebnisses: Ein Ausblick
Doch was bedeutet dieses Wahlergebnis nun vor dem Hintergrund der Beziehungen zwischen Taiwan und China?
Für Taiwan:
Die Annäherung an die VR China wird nun erst einmal verlangsamt werden. Eine wichtige Frage für zukünftige Gespräche wird die Anerkennung des „1992 Consensus“ durch die neue Regierung sein. Demnach erkennen sowohl die VR China als auch Taiwan an, dass es nur ein China gibt – wenn auch beide Seiten etwas Unterschiedliches darunter verstehen.
Tsai Ing-wen bzw. die DPP haben diesen Konsensus, unter dem bislang die Gespräche zwischen den Vertretern beider Seiten stattfinden konnten, bisher immer wieder in Frage gestellt. Doch eine Abschottung Taiwans von China ist schon allein aufgrund der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Insel vom Festland vollkommen ausgeschlossen. Tsai Ing-wens Aufgabe wird es sein, Hardlinern und Moderaten in ihrer Partei gerecht zu werden – und das vor dem Hintergrund der Entwicklung der Beziehungen mit der VR China. Eine wahre Herkulesaufgabe.
Für China:
Für die Regierung der VR China bedeutet das Wahlergebnis die schlechtestmögliche politische Konsequenz der bisherigen Annäherung an Taiwan. Die Strategie, Taiwan wirtschaftlich stark an sich zu binden und komplex in das eigene Wirtschaftssystem zu integrieren, um es später politisch umso einfacher integrieren zu können, ist auf klaren Widerstand insbesondere der jungen Generation in Taiwan gestoßen. Ein Loslassen von Taiwan durch China ist jedoch ausgeschlossen, denn dann würde es in verschiedenen Regionen des „Reiches der Mitte“ zu Unabhängigkeitsbestrebungen kommen.
Viel hängt von der immer etwas undurchsichtigen innenpolitischen Lage auf dem Festland ab. Zunächst ist Geduld auf chinesischer Seite gefragt. Solange China es nicht schafft, der jungen Generation in Taiwan glaubhaft zu machen, was China ihr zu bieten hat, wird sich am Widerstand gegen die Volksrepublik nichts ändern. Das Wahlergebnis ist auch eine Niederlage für Präsident Xi Jinping, der sich immerhin noch im November mit Taiwans Präsident (aus chinesischer Sicht: „Leader“) getroffen hatte. Mitentscheidend für die zukünftige Kooperation wird sein, wer und welche Ebene der Regierung die nächsten Gespräche mit Taiwans neuer Regierung führen wird.
China hat natürlich zahlreiche Möglichkeiten, um auf die neue Regierung Druck auszuüben, denn die wirtschaftliche Abhängigkeit Taiwans von China ist groß: Allein die chinesischen Touristen auf Taiwan tragen inzwischen zwei Prozent zum Bruttoinlandsproduktes der Insel bei und schaffen angeblich bis zu eine Million Jobs.
Für die Region:
Die neuen Machtverhältnisse in Taipei bedeuten auch eine neue Sichtweise auf die Inseln im Südchinesischen Meer, die unter anderen von China, Vietnam, den Philippinen und Taiwan beansprucht werden. Historisch bedingt legte die Kuomintang-Regierung immer Wert auf einen Souveränitätsanspruch im Südchinesischen Meer – für die DPP haben die Inseln jedoch kaum eine Bedeutung. Die Aufgabe eines entsprechenden Anspruchs durch Taiwan würde jedoch für China, welches bekanntermaßen Taiwan beansprucht, in die Quere kommen. Insofern könnten die Inseln im südchinesischen Meer für Taiwan zu einer interessanten Verhandlungsmasse werden.
Für die USA:
Seit der Anerkennung der VR China Ende der 70er Jahre verpflichten sich die USA vertraglich, Taiwan militärisch zur Verteidigung seiner Souveränität zu unterstützen. Verschiedene Vertreter der amerikanischen Regierung bekräftigten gleich nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses diese Unterstützung der noch jungen Demokratie. Da eine militärische Auseinandersetzung zwischen China und Taiwan eine Beteiligung der USA zur Folge hätten, gewinnen selbst derartige bloße Versprechen an Bedeutung für die Stabilität in der Region.
Für die Welt:
Die meisten Staaten der Erde werden das Wahlergebnis zur Kenntnis nehmen und die Errungenschaften der Demokratie auf Taiwan anerkennen. Taiwan selbst werden sie auch weiterhin nicht als Land anerkennen, denn dies hätte gemäß der von ihnen letztendlich unterstützen „Ein-China-Politik“ ein Ende der diplomatischen Beziehungen mit der VR China zur Folge. Schon allein aus wirtschaftlichen Gründen wird sich nun also kaum ein Land für die Anerkennung der Präsidentin Tsai Ing-wen entscheiden (in Europa ist dies übrigens nur der Vatikan).
Mit Tsai Ing-wen hat Taiwan eine ausgesprochen erfahrene Politikerin zur Präsidentin gewählt. Die Juristin mit einem Ph.D. der London School of Economics war zwischen 2000 und 2004 bereits Vorsitzende des Mainland Affairs Council (MAC, Festlandrat) und ist schon von daher mit den Komplexitäten der Beziehungen über die Taiwanstraße bestens vertraut.
In Richtung USA und China ließ sie bereits verlauten, dass sie den Status-Quo Taiwans aufrechterhalten will (also weder eine formale Unabhängigkeit Taiwans von China noch eine Wiedervereinigung anstrebt), prinzipiell gehört sie jedoch dem Flügel der Unabhängigkeitsunterstützer an. Es lohnt sich, in den kommenden Monaten einen Blick auf die fünftgrößte Wirtschaftsmacht Asiens zu werfen und zu beobachten, welche Konsequenzen dieser Erdrutschsieg der DPP für Taiwan bedeuten wird.
Quellen:
– Bild 1, 2: Wikipedia
– Bild 3: Taipei Times