Das Individuum und die Digitalisierung oder: Die Suche nach dem Glück in der Digitalisierung

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Bis zum Ende des Jahrzehnts wird mehr als die Hälfte der Menschheit digital vernetzt leben, lernen und arbeiten. Diese Menschen verwenden Schlagworte wie Social Media, mobile, webbasierte Applikationen, Industrie 4.0, digitale Geschäftsmodelle, Internet der Dinge, Big Data etc., um das Phänomen zu beschreiben, das unser tägliches Leben als Individuum und Teil einer globalen Gesellschaft beeinflusst. Während die digitale Vernetzung für viele von uns bereits allgegenwärtig und zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, ist sie für andere mit weitreichenden Herausforderungen oder sogar existenziellen Ängsten verbunden. Die Menge an Daten und Informationen, die unsere Vorfahren vor mehr als einhundert Jahren über den gesamten Lebenszyklus erreichte, überflutet heute digital vernetzte Menschen an einem einzigen Tag.

Ein Kapitel des Fachbuches zeigt dabei einige Facetten auf, die zeigen, wie die Digitalisierung die Rolle des individuellen Menschen in einer zunehmend digitalen Welt beeinflussen kann. Letztendlich wird die Frage aufgeworfen, ob die Digitalisierung zum Lebensziel eines jeden Menschen, nämlich dem Erstreben seines Glücks, beitragen kann.

Der folgende Beitrag sind Auszüge dieses Kapitels, der mit freundlicher Genehmigung des Hanser Verlags, in dem die Herausgeberschaft mit dem Titel „Digital vernetzt: Transformation der Wertschöpfung“ erschienen ist, veröffentlicht werden darf.

Die Digitalisierung hat heute erreicht, dass in der Summe Unternehmen und Regierungen mehr über eine einzelne Person wissen als die Person selbst, da sie vieles, was einmal Eingang in die elektronischen Datenaufzeichnungen gefunden hat, schon wieder vergessen oder die Aufzeichnung selbst nicht wahrgenommen hat. Dabei muss die einzelne Person nicht einmal selbst aktiv gewesen sein: Der Social Graph einer Person erlaubt es, beispielsweise alleine über die Zusammensetzung und die Aktivitäten des Freundeskreises der Person eine Orientierung über diese zu erhalten, ohne Daten und Informationen über die Person selbst analysieren zu müssen.

Ein Einzelner kann dabei nicht mehr wissen, Teil welches Social Graphs er ist. In einem einfachen Fall wird er Teil eines Social Graphs, sobald ein Bekannter bei der Registrierung auf einer Website sein Adressbuch aus dem Handy hochlädt, um sich automatisch mit Personen aus diesem, die bereits Mitglieder der Plattform sind, zu verknüpfen. Damit zeigt er nicht nur, welche Freunde er selbst hat, sondern auch, dass eine bestimmte dritte Person, die von dem Hochladen nichts weiß, zum Bekanntenkreis des neuen Websitenutzers gehört. Gleiches gilt für das „Taggen“ von Personen in Fotos, von dem die „Getaggten“ nichts wissen. Die Ethik der Fernverantwortung gewinnt in diesem Zusammenhang immens an Bedeutung (Simanowski 2014). Selbst für den einzelnen „digital Inaktiven“ gibt es kaum eine Möglichkeit, die eigenen Daten zu verbergen, da Dritte mehr oder weniger unfreiwillig und mehr oder weniger regelmäßig zur Generierung von Daten und Informationen über ihn beitragen.

Hinzu kommt, dass immer mehr Dienstleistungen ausschließlich über das Internet abgewickelt werden können und Technologien wie Smart Meter und die digitale Gesundheitskarte früher oder später für jeden Bürger gesetzlich verpflichtend sein werden. Dadurch entsteht über jedem Bürger eine stetig wachsende, auf zahlreiche Server verteilte Datenwolke. Dies führt zu der genannten dramatischen Asymmetrie des Wissens über jedes Individuum, bei der Unternehmen und Regierungen mehr über eine einzelne Person wissen als die Person selbst. Elemente dieser Datenwolke können ohne Weiteres legal (Finanzamt) und illegal (Hacker) in mehr oder weniger großen Teilen angezapft werden – auch ohne das Wissen des Individuums (Kucklick 2014). Letzten Endes sind jeder Computer und jede Datenbank, die in irgendeiner Form an das Internet angeschlossen ist, potenziell öffentlich. Dadurch ist Datensicherheit zwar einerseits immer nur temporär, doch andererseits wird so die Transparenz illegaler Aktivitäten, wie sie beispielsweise in den Panama Papers dokumentiert wurde, überhaupt erst ermöglicht.

Digitalisierung ohne Individuum

In dieser Entwicklungsphase der Digitalisierung werden jedoch auch bereits erste Anzeichen einer fortschreitenden Digitalisierung ohne Individuum sichtbar. Damit ist sowohl das vollständig autonome Agieren digitaler Geräte und Maschinen ohne das Eingreifen und Steuern durch einen Menschen gemeint als auch das selbständige Lernen digitaler Geräte und Maschinen (Machine Learning). Im Kern geht es hier um den Einsatz und die Entwicklung künstlicher Intelligenz (KI). Der Entwicklungsstand der KI ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass führende Köpfe des Silicon Valley wie Tesla Gründer Elon Musk und Apple Mitgründer Steve Wozniak, aber auch der Physiker Stephen Hawking vor ihr warnen. In einem 2015 auf der „International Joint Conference on Artificial Intelligence“ in Buenos Aires veröffentlichten offenen Brief weisen sie v. a. auf die Gefahren des Einsatzes von KI im militärischen Bereich hin (Der vollständige offene Brief findet sich unter http://futureoflife.org/open-letter-autonomous-weapons/). Demnach ist es nur eine Frage der Zeit, bis autonome Waffensysteme oder gar Roboter ohne Zutun eines Menschen zum Einsatz kommen und letzten Endes als solche gefährlich für jegliches Machtgefüge werden können.

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Die Entwicklung kognitiver Maschinen wird durch mehrere Forscher vorangetrieben. Hierbei programmieren diese die menschliche Entwicklung eines Neugeborenen in seinen frühen Kindheitsjahren nach, um so die kognitive Entwicklung eines Menschen auf eine Maschine zu übertragen. Letztendlich sollen Maschinen autonom in der Lage sein, so etwas wie ein Bewusstsein und ihre dann individuellen Fähigkeiten zu entwickeln.

In diesem Zusammenhang entstehen diverse ethische Fragen und der Bedarf einer Ethik für Maschinen. Diese Fragen müssen nicht zuletzt bei einer sozialen Programmierung der Maschinen diskutiert werden. Wie beispielsweise sollte sich ein autonom fahrendes Auto bei einer Unfallanbahnung entscheiden – sollte es nach rechts ausweichen und in eine Gruppe älterer Damen und Herren fahren oder nach links ausweichen und eine Mutter mit Kind in Gefahr bringen oder doch einen Zusammenstoß in Kauf nehmen und dabei die Gesundheit des Menschen im Auto gefährden? In einem anderen auch unter ethischen Gesichtspunkten diskutierten Fall wurde 2015 ein Arbeiter in einem Volkswagen-Werk von einem Roboter getötet. Dürfen Roboter derart eingesetzt werden, dass sie unter Umständen die Gesundheit und das Leben von Menschen gefährden?

Auch in der Wissenschaft stellen sich neuartige philosophische Fragen. Wie soll mit mathematischen Beweisen umgegangen werden, die kein Mensch nachvollziehen kann? Im Jahr 2014 lösten Forscher gemeinsam mit einem Computer das aus den 1930erJahren stammende Erdős-Diskrepanz-Problem. Doch die Lösung ist derart umfangreich (länger als alle 30 Millionen Wikipedia-Artikel zusammen), dass nur wiederum ein Computer diese nachvollziehen kann (Kucklick 2015). Angesichts der unermesslichen Menge an Daten und Informationen könnten Theorien und Modelle in der Wissenschaft verschwinden (Han 2013). Wozu umständlich Modelle entwickeln und empirisch überprüfen, wenn man durch Korrelationen basierend auf einer unermesslichen Menge bestehender Daten viel zuverlässiger und granularer bestimmte Sachverhalte nachweisen kann (Anderson 2008)?

Glück und Digitalisierung

Letztendlich strebt jeder Mensch nach seinem persönlichen, individuellen Glück im Leben. Der Schlüssel zu diesem Glück liegt jedoch nicht in der digitalen Welt. Diese schafft zahlreiche Möglichkeiten, die den Weg zum Glück erleichtern, gleichzeitig jedoch laufend vom Ziel ablenken und vollkommen neue Risiken und Gefahren mit sich bringen können. Zu schnell landet der Mensch in einer Zeitspartretmühle, in der er die durch die Digitalisierung gesparte Zeit gleich wieder gestresst anderweitig nutzen muss (Binswanger 2014). Achtsamkeit als ein Kernbaustein des Glücks ist in einer digitalen Welt, die den Menschen laufend antreibt und durchschnittlich 53-mal am Tag dazu verleitet, auf sein Smartphone zu blicken (Dies entspricht bei acht Stunden Schlaf einem 18-Minuten-Takt (Markowetz 2015)), unmöglich zu erleben. Dankbarkeit als ein weiterer zentraler Baustein des Glücks hat am Ende des Tages kaum etwas mit digitalen Themen zu tun: Was hier zählt, sind erfüllende Aufgaben, Freundschaften, eine intakte Familie und ein Leben im Einklang mit der Natur. Mitgefühl als letzter zentraler Baustein des Glücks lässt sich nur im analogen Leben authentisch praktizieren und erfahren – ein „Facebook-Like“ ist lediglich ein flüchtiger Verlegenheitsklick. Ob es überhaupt eine Schlüsselapplikation der Digitalisierung gibt, die nachhaltig zum allgemeinen subjektiven Wohlbefinden beiträgt, ist durchaus zweifelhaft.

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Nicht zuletzt bieten Technologieunternehmen wie SAP und Google heute ausgesprochen populäre Achtsamkeitsprogramme für ihre Mitarbeiter an (Chade-Meng Tan gilt mit seinem „Search Inside Yourself“-Programm bei Google als diesbezüglicher Pionier (Tan 2012)). Abschließend lohnt es sich, kurz in die Zukunft zu schauen und aus ihr wiederum in die Vergangenheit zu blicken, um die Gegenwart schärfer sehen zu können. Das Ergebnis könnte dann beispielsweise folgendermaßen aussehen:

„Der Paradigmenwechsel von der Verborgenheit zur absoluten Transparenz des individuellen Lebens, so wird es in den Geschichts-,Büchern‘ der Zukunft heißen, vollzog sich nicht nur im Zeichen der Vermessung, sondern auch der Vernetzung. Das Internet der Dinge, so wird man lesen, war der Triumph künstlicher Intelligenz und menschlicher Bequemlichkeit über die verbliebenen Datenschutzbemühungen des frühen 21. Jahrhundert. Es zog die Dinge und Aktionen zusammen und erleichterte durch Kontrolle das Leben der Menschen. Seine immense Datenakkumulation war ein Paradies für all jene, die sich für menschliches Verhalten im großen Stile interessieren: Soziologen, Werbefachleute, Versicherungen, Mediziner, Verkehrsregler, Stadtplaner, Polizisten und andere Sicherheitsbeamte. Das beunruhigte zwar die Datenschützer, aber die Mehrheit kooperierte längst mit den staatlichen und kommerziellen Datensammlern. So wie sie für wenige Cent im Supermarkt per Rabattkarte Einblick in ihr Kaufverhalten erlaubt hatte, so ‚verkaufte‘ sie nun ihre digitale Kommunikation. [. . .] Irgendwann hatten sich die meisten sogar den ‚intelligenten Mülleimer‘ angeschafft, der nicht mehr im Zeichen der Selbstoptimierung oder des Informationsmanagements stand, sondern der gouvernementalen Kontrolle ordentlichen Recycelns diente“ (Simanowski 2014).

 

Quellen:

  • Anderson, C.: The End of Theory: The Data Deluge Makes the Scientific Method Obsolete. OnlineRessource 2008, abgerufen am 31. 03. 2016: http://www.wired.com/2008/06/pbtheory/
  • Han, B.C.: Im Schwarm – Ansichten des Digitalen. Matthes & Seitz, Berlin 2013
  • Kucklick, C.: Die granulare Gesellschaft – Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst. Ullstein Buchverlage, Berlin 2015
  • Markowetz, A.: Digitaler Burnout. Droemer Knaur, München 2015
  • Simanowski, R.: Data Love. Matthes & Seitz, Berlin 2014
  • Tan, C.M.: Search Inside Yourself. Harper, New York NY 2012
MBS Prof. Dr. Christian Schmidkonz
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Prof. Dr. Christian Schmidkonz ist Studiengangsleiter des Programms "Master International Business" an der Munich Business School. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Conscious Business, Happiness at Work sowie Wirtschaft in China und Taiwan. Christian Schmidkonz hält ein Diplom in Volkswirtschaftslehre von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er studierte Chinesisch an der Fu Jen Universität in Taiwan und ist Alumnus des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Nach Stationen am ifo Institut für Wirtschaftsforschung und bei der internationalen Unternehmensberatung Capgemini gewann er als Entrepreneur 2008 den vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie ausgeschriebenen Gründungswettbewerb „Multimedia“. Christian Schmidkonz wurde 2020 mit dem erstmalig vergebenen „MBS Teaching Award" ausgezeichnet.