Neue Wege gehen
Den gewohnten Pfad zu verlassen, neue Wege zu suchen und dabei alles hinter sich zu lassen, das fällt schwer. Wer sich nicht den veränderten Umweltbedingungen anpasst, hat das Nachsehen. Diese Weisheit ist jedem klar. Was für uns Menschen gilt, macht auch vor Organisationen nicht halt. Aber warum müssen sich Organisationen anpassen und radikal verändern oder sogar komplett auflösen?
Ein Gedankenexperiment: Man nehme das Jahr 2040. Wie wahrscheinlich ist es, dass eine klassische Organisationsform noch existiert? Gemeint sind Firmen mit festgelegten Hierarchien und Unternehmensstrukturen sowie klar definierten Prozessen, Systemen und Funktionen. Gibt es vielleicht andere, alternative Organisationsformen, die viel besser angepasst sind an die Trends und sich wandelnden Bedingungen, die wir schon heute sehen können?
Herausforderung Megatrends
Spätestens seit der Manager „agil“ sein soll und sich in der derzeitigen industriellen Revolution der Digitalisierung – der „Industrie 4.0“ – zurechtfinden muss, scheint eine Beschäftigung mit den neuen Megatrends überlebenswichtig zu sein. Obwohl die Digitalisierung nicht wirklich neu ist, so sind die starke Verflechtung mit dem Business und die IT-Autarkie tatsächlich ganz aktuelle Ausprägungen. Hinzugekommen sind die Multi-Generationen, die Internationalisierung und die globalen Warenströme bei ungleicher demographischer Entwicklung. Mittendrin ist der Mensch in seiner Organisation, die sich den neuen Kundenbedürfnissen und den neuen Mitarbeiter-Erwartungen anpassen möchte. Dazu muss die Organisation sich weiterentwickeln und alte Charaktereigenschaften ablegen. Sieht man sich heute Unternehmen an, so ist bei vielen kein prinzipieller Unterschied zu den Organisationen von vor 100 Jahren feststellbar!
Manager sehen Nachholbedarf
Eine Umfrage unter 129 Managern ergab, dass eine Abkehr von traditionellen Organisationsformen im Bereich der Kommunikation und in der Rolle der Firma als reinem Arbeitsort sehr wahrscheinlich ist (Albrecht, 2017). Was heißt das konkret? Virtuelles Arbeiten, d.h. physisch nicht anwesend zu sein und trotzdem mit anderen Konferenz-Teilnehmern und mit Androiden/ Robotern vernetzt zu arbeiten, erfordert
- eine dislozierte Arbeitsweise (Ortsungebundenheit),
- eine erhöhte Flexibilität in der Übernahme von Aufgaben (hohe und breite Fachkompetenz),
- eine kontinuierliche Adjustierung von Soft- und Hardskills (LLL = Lebenslanges Lernen),
- einen höchst professionellen Umgang (sachbezogenen Problemlösung) und
- eine verstärkte personenbezogene Zusammenarbeit (Vertrauensaufbau).
Konsequenterweise wird die Organisation zu einem Kooperationsdach, das aber nicht notwendigerweise physisch vorhanden sein muss. Die Organisation ist eine freie Assoziation und Dissoziation von Fachexperten zu einer virtuellen Firma. Dieses temporäre, intangible Unternehmen kann Kundenbedürfnisse optimal befriedigen, da es nur zu diesem Zweck zustande gekommen ist. Eine Firma aus Stein ist nicht mehr notwendig. Die physische Anwesenheit von Mitarbeitern und deren Lebenszeitinvestment innerhalb definierter Räume werden obsolet! Für die Führung von Mitarbeitern ergibt sich allerdings die Herausforderung, dass Führung durch das Setzen von Zielen und eine Leistungsüberprüfung erfolgen muss.
Neue Kommunikationsformen
Kommunikation wird sich zukünftig mehr auf „Blended Meetings“ konzentrieren, d.h. die meisten Zusammentreffen erfolgen virtuell und nur von Zeit zu Zeit ist eine Auffrischung in Form eines Face-to-Face-Meetings notwendig. Theoretisch ist dies ideal, praktisch ist die Qualität von virtuellen Meetings extrem fragwürdig. Neue Kommunikations-Formate innerhalb des agilen Projektmanagements wie beispielsweise Scrum eröffnen jedoch vielversprechende Möglichkeiten. Bei Scrum ist die Kommunikations-Taktung durch tägliche Meetings von je 10-15 Minuten zwar streng vorgegeben, aber die Transparenz und die freie Auswahl an Themenfragestellungen kompensieren diese rigide Struktur und ermöglichen den Mitarbeitern ein flexibleres Arbeiten.
Virtuelles Projektmanagement technisch zu gestalten ist vergleichsweise einfach geworden. Programme wie slack, Mattermost, Zulip, Circuit und andere ermöglichen einen besseren Datenaustausch und liefern eine gemeinsame Plattform für Mitglieder von Projektteams. Allerdings kann die ausschließliche Kommunikation über Tools interkulturelle Missverständnisse begünstigen, so dass Kritiker sie nur als eine unterstützende Funktion empfehlen, nicht aber als einen Ersatz für Face-to-Face-Meetings sehen.
Wie soll eine neue Organisationsform aussehen?
Veränderte Kundenbedürfnissen erfordern die Anpassung alter Organisationsformen. Sich zum Kunden zu bewegen ist eine Methode, die bereits von Automotive-Zulieferern bekannt ist, die sich auf dem Produktionsgelände ihres B2B-Kunden ansiedeln. Neu ist, dass diese Entwicklung nicht nur gemeinsam mit einem Kunden, sondern mit mehreren Fremdleistern (Third Parties) erfolgt.
Befragte man Manager, wie sie die Firma im Jahr 2040 sehen (Albrecht, 2017), so zeigt sich überraschenderweise, dass sie als Ort für Socializing wahrgenommen wird, der den sozialen Austausch zwischen Kollegen und Geschäftspartnern fördert. Das ist eine radikale Abkehr vom Konzept der Firma als physischem Ort, an dem ausschließlich Leistung erbracht wird.
Ähnlich extreme Verwandlungen von Organisationsformen kann man auf Messen erleben. Früher wurden Messen genutzt, um Vorträge zu halten, Verträge zu schließen und die Produktion sowie Produktneuheiten vorzustellen. Heute dienen Messen eher zum Informationsaustausch und zur Begegnung von Kollegen, Wettbewerbern und Verbänden. Zur Produktionsinnovationsvorstellung fahren Anbieter zum Teil direkt zum Kunden, statt die Messepräsenz zur Präsentation zu nutzen.
Sicherlich bleiben viele klassische Organisationsformen erhalten, vor allem je haptischer das Produkt/der Service ist. Doch vor dem Hintergrund einer immer stärkeren Life-Domain-Balance (Ulich und Wiese, 2011) ist eine neue disruptive Organisationsform nicht nur bei der Generation Z willkommen.
Ausrüstung für disruptive Wege
Welche neuen Wege sind einzuschlagen und mit welcher Ausrüstung? Welche Skills und Kompetenzen benötigt der Manager der Zukunft? Folgende fünf entscheidenden Faktoren lassen sich ableiten:
- Neue Definition von Arbeit
Arbeit oder Tätigkeit muss neu definiert werden, da viele klassische Arbeitsplätze wegfallen oder nur mit hohem Bildungsniveau oder IT-Kenntnissen ausgeübt werden können.
Schnittstellenkenntnisse sind zunehmend wichtig, vor allem dort, wo der Mensch in Organisationen durch die Automatisierung von Produktionsabläufen, Steuerungssystemen und Routinetätigkeiten abgelöst wird, wie beispielsweise in den Bereichen Administration, Steuern, Finanz, Controlling, Marketing Research.
- Kommunikation zwischen Mensch und Maschine
Virtuelle Kommunikationsformen müssen durch stärkeres Training geübt und früh in der Ausbildung der Mitarbeiter verankert werden.
Auch Sprachkommunikationsbarrieren zwischen Mensch und Roboter müssen durch frühes Erproben von Prototypen in der Praxis überwunden werden (H2M = Human to Machine).
- Der Arbeitsort als reine Kommunikationsplattform
Die Organisation muss als zentrale Plattform für den Kommunikationsaustausch im Sinne eines Netzwerkknotens oder Informations-Hub zur Steigerung der Kunden-, Zulieferer- oder Behördenkontakte dienen.
Führungskräfte und Mitarbeiter müssen stärker in die Entwicklung eines Kompetenzzentrums für spezifische Fragestellungen einbezogen und zu lebenslangem Lernen angehalten werden. Alte und neue Methoden zur Nutzung mentaler Ressourcen, wie Think-Tank und Brainstorming bzw. Think-Labs und Business-Coaching, werden zum „State of the Art“ werden.
- Verschmelzung von Freizeit und Arbeitszeit
Die Arbeit und die Betreuung von Projekten erfolgt ausschließlich über Zielvereinbarungen. Die Leistungshonorierung orientiert sich an der Zielerreichung.
Den Mitarbeitern muss ein Programm an verschiedenen Freizeitaktivitäten angeboten werden, das sie allein, mit ihrer Familie oder mit Kollegen und Kunden zusammen nutzen können. Eine Ausstattung des Mitarbeiters mit technischer Infrastruktur sorgt dafür, dass sowohl zu Hause als auch unterwegs produktive Meetings durchgeführt werden können, z. B. durch autonome Dienstwagen und Videoinfrastruktur.
- Aufrechterhaltung der Loyalität
Nachhaltige Loyalität kann nur durch Team-Building-Maßnahmen erreicht werden, d.h. durch gemeinsame Aktivitäten und große Kommunikationstransparenz sowie Informationsaustausch.
Ein neues Führungsmodell im Sinne eines Shared-Leadership-Ansatzes führt durch Delegation und Weiterentwicklung zu einer besseren Einbindung der Mitarbeiter und steigert deren Identifikation mit ihrer Arbeit und mit dem (möglicherweise virtuellen) Unternehmen. Durch permanente Weiterbildung des Projektleiters müssen seine Leadership-Qualitäten sichergestellt werden. Er fungiert als Vorbild und trägt die Werte des Unternehmens in sein Projektteam, indem er sie vorlebt und im Team anwendet.
Viele dieser Ansätze sind schon heute in Unternehmen sichtbar. Doch für die konsequente Umsetzung bedarf es Pioniergeist. Eigentlich war dieser im deutschen Unternehmertum stark vertreten, doch fordern die hohen Investitionen, die momentan erforderlich sind, eine eher konservative Haltung des Mittelstandes heraus. Deshalb liegt es nun an Ihnen, einen neuen Weg einzuschlagen!
Literatur:
- Albrecht, A (2017), Disruptive Organisationen. Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie, Springer Nature Verlag, 48: 185–192*
- Albrecht, A (2016), Internationales Management, Berliner Wissenschaftsverlag, 26-29
- Ulich, E, Wiese, BS (2011), Life Domain Balance, Springer Verlag, 19-58
*Inhalte wurden maßgeblich aus dem Hauptbeitrag der Zeitschrift GIO (Springer Verlag) von Prof. Dr. Arnd Albrecht entnommen. https://www.springerprofessional.de/disruptive-organisation/13444678