Vuja-de: Mit neuen Augen sehen

Paper the German word "Haus" written several times on it to provoke a vuja de

Das Déjà-vu kennen wir alle. Aber was hat es eigentlich mit dem Vuja-de auf sich? Prof. Dr. Stefan Baldi erklärt, die Bedeutung von Vuja-de und wie dieses Phänomen Innovation fördern kann.


Schreiben Sie 30-mal das Wort „Haus“ – oder ein anderes einfaches Wort – auf ein Blatt Papier. Schauen Sie sich die Wörter jetzt genau an. Lassen Sie sie auf sich wirken. Merken Sie etwas? Für viele verliert das aufgeschriebene Wort an Bedeutung. Manche zweifeln, ob es tatsächlich ein echtes Wort ist. Dieser Effekt wird als „semantische Sättigung“ bezeichnet und durch die Anregung spezifischer neuronaler Muster hervorgerufen, die bei Wiederholung zunehmend abgeschwächt werden (Jakobovits, 1962). Es scheint so, als würde man ein bekanntes Wort mit neuen Augen sehen.

Vom Déjà-vu zum Vuja-de

Das beschriebene Phänomen ist sozusagen das Gegenteil eines Déjà-vu-Erlebnisses: Nicht eine unbekannte Situation erscheint plötzlich bekannt, sondern etwas eigentlich Bekanntes erscheint unerwartet fremd. Das darauf aufbauende Wortspiel Vuja-de wurde erstmals in einem Auftritt des amerikanischen Comedian George Carlin dokumentiert: „Vuja de: This is the strange feeling that, somehow, none of that has ever happened before.“ (Carlin, ohne Datum) In der Innovationsforschung wurde der Begriff u.a. von Robert Sutton (Sutton, 2002) aufgegriffen und kürzlich durch Adam Grant in seinem Buch Originals (Grant, 2016) wieder in die Diskussion gebracht.

Für Vuja-de gibt es auch einen psychologischen Fachausdruck: Jamais-vu (französisch für „niemals gesehen“) beschreibt das Phänomen, dass jemand etwas eigentlich Bekanntes als fremd oder neu empfindet (Spector, 2011). Jamais-vu-Erlebnisse können sowohl bei gesunden Menschen als auch als Begleiterscheinung von psychischen Erkrankungen auftreten. Ein Jamais-vu-Erlebnis zeichnet sich dadurch aus, dass es eine temporäre Erscheinung ist und in einer Reflexionsphase bewusst eingeordnet werden kann. In der Innovationsforschung wird statt des psychologischen Fachausdrucks gerne das Wortspiel Vuja-de verwendet, um den positiven Charakter des Phänomens in den Vordergrund zu stellen. Generell kann ein Jamais-vu-Erlebnis nämlich durchaus auch negative Folgen haben, wenn beispielsweise in Krisensituationen zuvor sorgfältig eingeübte Verhaltensmuster nicht abgerufen werden können.

Vuja-de und Innovation

Der frische Blick auf vertraut geglaubte Produkte, Prozesse oder Kund*innen erlaubt es, die richtigen Fragen zu stellen und so Ansatzpunkte für mögliche Innovationen zu finden:

  • Der frische Blick von Tony Fadell auf alltägliche Gegenstände wie Thermostate oder Rauchmelder hat 2010 zur Gründung des Automatisierungsunternehmens Nest geführt, das selbst lernende und vernetzte Regler für den Privathaushalt entwickelt. 2014 konnte das Unternehmen für mehr als drei Milliarden US-Dollar an Google verkauft werden.
  • Im Jahr 2007 erkannten Joe Gebbia und Brian Chesky, damals knapp bei Kasse, dass ihr Wohnzimmer während einer großen Konferenz in San Francisco einen besonderen Wert darstellt. Alle Hotels waren ausgebucht und so konnten sie über eine eigens geschaffene Website drei Luftmatratzen (engl. airbed) inklusive Frühstück (engl. breakfast) anbieten: airbedandbreakfast.com. Aus diesem frischen Blick auf das eigene Wohnzimmer wurde Airbnb, heute mehrere Milliarden US-Dollar schwer.

Eine wesentliche Voraussetzung für Innovation ist die Fähigkeit, vertraute Situationen in Frage zu stellen und mit neuen Augen zu sehen. Allzu oft werden bestehende Strukturen einfach akzeptiert und fortgeführt. Dabei mögen Gründe, die ursprünglich zu einer Gestaltung in der aktuellen Form geführt haben, schon lange nicht mehr gültig sein oder in Kürze wegfallen (oder schlimmstenfalls nie gültig gewesen sein).

Wenn jemand heute jederzeit ein Auto zur eigenen Verfügung haben möchte, dann muss er das Fahrzeug selbst besitzen. Wenn man bereit ist, Einschränkungen bei der Verfügbarkeit hinzunehmen, kann man auf ein Carsharing-System zurückgreifen. Sollten sich in Zukunft autonome Fahrzeuge selbstständig zum gewünschten Einsatzort bewegen können, ist der Fahrzeugbesitz möglicherweise nicht mehr die Voraussetzung für eine hohe individuelle Verfügbarkeit. Im Gegenteil: Eine hohe Verfügbarkeit könnte in bisher nicht bekannter Weise mit einer höheren Flexibilität beim Fahrzeugtyp und in Bezug auf den Einsatzort verbunden werden.

Der frische Blick und ein Vuja-de-Erlebnis helfen aber nicht nur bei der Entwicklung disruptiver Innovationen: Die Website, die Sie vor zwei Jahren mit viel Aufwand entwickelt haben und die damals den Stand der Zeit entsprach, ist heute vielleicht für einen potenziellen Neukunden nicht mehr attraktiv. Oder der mit viel Aufwand renovierte Empfangsbereich Ihres Unternehmens hat sich als nicht-funktional erwiesen und über die Zeit vom Design-Schmuckstück zu einer unattraktiven Paketlagerstelle entwickelt. Schauen Sie genau hin.

So sehen Sie Dinge neu

Wie nun kann man systematisch Vuja-de-Momente generieren, um Dinge neu zu sehen und so den Innovationsprozess zu stärken? Auch wenn es keine Garantie gibt, haben sich einige Ansätze bewährt:

  • Die eigenen Sinne schärfen: Untersuchungen zeigen, dass beispielsweise schon ein wenig Bewegung die Sinne schärfen kann. Nach schon kurzer Zeit wird das Protein BDNF (Brain-Derived Neurotrophic Factor) produziert, das den Aufbau von Nervenzellen fördert und die Ausbildung neuronaler Verbindungen stimuliert (Hallowell, 2008, p. 60). Ein Spaziergang hat so die Wirkung eines symbolischen Reset-Knopfes, der eine neue Sichtweise begünstigt. Neben den Augen sollten idealerweise auch die anderen Sinne eingesetzt werden: Was hören Sie? Was riechen Sie? Was schmecken Sie? Was fühlen Sie?
  • Die Augen anderer nutzen: Wenn Ihre eigenen Augen betriebsblind sind, dann nutzen Sie doch einfach die Augen anderer, die möglichst wenig in betrieblichen Routinen gefangen sind. Dieses können Erstkund*innen oder neue Mitarbeiter*innen sein; fach- und branchenfremde Personen; Personen aus einem anderen kulturellen Umfeld. Im persönlichen Austausch wird die eine oder andere Selbstverständlichkeit hinterfragt werden.
  • Anderes ansehen: Ein regelmäßiges Benchmarking innerhalb der eigenen Branche ist interessant und hilfreich. In Hinblick auf Innovationen ist aber der Blick über den Tellerrand wichtig, beispielsweise zu Start-ups oder zu Unternehmen in anderen Industrien, die wesentliche Attribute mit dem eigenen teilen. Wenn im medizinischen Bereich beispielsweise bei komplexen Operationen eine hohe Konzentration und Fokussierung auf den*die Patient*in erfolgen muss, könnten Prozesse im Cockpit eines Flugzeugs bei Start und Landung vergleichbare Anforderungen stellen. So besuchte das Team eines Gesundheitsunternehmens auch Flugschulen, Autohändler, einen Supermarkt und einen Experten für Forensik, um Erkenntnisse für das eigene Arbeitsumfeld zu gewinnen (Chow & Zuber, 2008).
  • Raus aus der Routine: Schon kleine Änderungen im Arbeitsablauf können einen entscheidenden Impuls geben, Routinen zu durchbrechen. Zum Beispiel, ein Meeting außerhalb des Unternehmens durchführen, zu einer anderen als der üblichen Zeit, mit anderen Teilnehmern.
  • An die Basis gehen: Manager*innen und Führungskräfte sind häufig durch ihre Aufgaben vom „wirklichen“ Geschehen in ihrem Unternehmen getrennt. Erleben Sie eine Arbeitswoche beim Händler vor Ort, im Telefonsupport oder einer anderen Abteilung. Oder versuchen Sie das Angebot Ihres Unternehmens als potenzielle*r Kund*in wahrzunehmen. In Form einer virtuellen Customer Journey oder noch besser in Realität. Sie müssen dazu nicht als „Undercover Boss“ ins Fernsehen.
  • Ideen sichtbar machen: Spielen Sie neue Ideen nicht nur in der Theorie durch und schreiben Konzepte, sondern entwickeln Sie Prototypen, die wesentliche Eigenschaften bereits konkret abbilden und mit denen interagiert werden kann. So können Sie selbst – aber auch andere – bereits ein Gefühl für die Idee entwickeln und diese mit mehreren Sinnen erleben.
  • Abschalten und neu fokussieren: Versuchen Sie sich für einige Tage vollständig aus Ihrem Umfeld und Ihren täglichen Aufgaben auszuklinken. Machen Sie einen Ausflug, unternehmen Sie eine Reise. Wenn Sie zurückkommen, versuchen Sie, die Dinge mit der Offenheit eines*r Anfänger*in zu betrachten, dem Konzept des Shoshin (deutsch: Anfänger-Geist) aus dem Zen-Buddhismus folgend, selbst wenn Sie eigentlich ein*e Expert*in auf dem Gebiet sind.

Vielen dieser Techniken ist gemeinsam, dass Sie einen Perspektivwechsel beinhalten, der entweder eigenständig oder mit der Hilfe von anderen gelingt.

Vuja-de im Studium?

Vuja-de-Momente erzeugen zu können, ist ein wichtiger Grund, Perspektivwechsel systematisch im Curriculum und in der Lernumgebung der Munich Business School (MBS) zu integrieren. Deshalb fördert und fordert das Lehrkonzept der MBS diese Fähigkeit auf den verknüpften Kompetenzfeldern „Wissen“, „Handeln“ und „Sein“ (Baldi, 2016). Einige Beispiele:

  • Obligatorische Auslandsaufenthalte erfordern ein Eintauchen in fremde Kulturen und deren Besonderheiten. Sie helfen so auch, die eigene Kultur besser zu verstehen und mit anderen Augen zu sehen. Besondere Vuja-de-Erlebnisse ergeben sich bei der Rückkehr in Form eines umgekehrten Kulturschocks.
  • Die soziale Projektarbeit für Bachelorstudierende erfordert eine aktive Auseinandersetzung mit fremden Lebenswelten von benachteiligten Bevölkerungsgruppen bzw. mit Einzelschicksalen, die wiederum Rückwirkung auf das eigene Selbstverständnis und Wertesystem hat.
  • Wechselnde Lernorte zwischen Praktikums- bzw. Arbeitsplatz und Hochschule fördern einen anderen Blick auf theoretische Lerninhalte und deren praktische Anwendbarkeit.
  • Ein obligatorischer internationaler Fokus zu Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft einer ausgewählten Weltregion sowie die Vermittlung von Fremdsprachen bereiten nicht nur mögliche Auslandsaufenthalte vor, sondern ermöglichen auch eine neue Perspektive auf die eigene Kultur. Gleiches gilt für Lehrveranstaltungen aus dem Bereich Wirtschafts- und Kulturgeschichte, die die Gegenwart in einem neuen Licht erscheinen lassen.
  • Die Diversität in der Zusammensetzung der Studierenden- und Dozierendenschaft, verbunden mit der Möglichkeit und Notwendigkeit des persönlichen Austausches über Lehrinhalte und Praxisprobleme, fördert den Perspektivwechsel. Die Diversität bezieht sich sowohl auf internationale kulturelle Wurzeln als auch auf unterschiedliche berufliche Erfahrungen und akademische Hintergründe.
  • In interdisziplinären Lehrveranstaltungen werden neben theoretischen Inhalten gezielt auch praktische Achtsamkeitsübungen durchgeführt. Im Rahmen der Veranstaltung Success Factor Happiness beispielsweise unter Anleitung eines*r Zen-Lehrer*in. In einer Entrepreneurship-Vorlesung besteht eine Hausaufgabe darin, einen aufmerksamen Spaziergang zu unternehmen und die Beobachtungen zu dokumentieren. Kein esoterischer Hokuspokus, sondern eine Hilfe, Dinge neu zu sehen und so die Innovationskompetenz zu stärken.

All diese Perspektivwechsel sind auch darauf ausgerichtet, die Augen zu öffnen und Vuja-de-Erlebnisse in Studium, Beruf und Alltag anzuregen. Die Fähigkeit zum Perspektivwechsel ist auch die Grundvoraussetzung für die Entwicklung von Empathie, sie hilft, die eigene Position in Wirtschaft und Gesellschaft zu bestimmen und ist somit eine wichtige Führungskompetenz (Albrecht, 2015). Auch aus diesen Gründen werden Studierende an der Munich Business School immer wieder mit Situationen und Inhalten konfrontiert, die einen Perspektivwechsel erfordern.

Starten Sie Ihre Entdeckungsreise heute

„Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, dass man neue Landschaften sucht, sondern dass man mit neuen Augen sieht“, sagt Marcel Proust. Wenn Sie das nächste Mal in Ihr Büro oder in Ihr Wohnzimmer gehen: Versuchen Sie den Raum einmal ganz bewusst mit anderen Augen zu sehen. Wie nimmt wohl ein*e erstmalige*r Besucher*in den Raum wahr? Vielleicht haben Sie ja ein kleines Vuja-de.

Quellen:

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Über Prof. Dr. Stefan Baldi 16 Artikel
Prof. Stefan Baldi ist Dekan der Munich Business School seit März 2002. 1984 bis 1990 Studium der Informatik an der TU Clausthal und dem Karlsruher Institut für Technologie (Diplom-Informatiker), 1996 Promotion zum Dr. rer. pol. in Betriebswirtschaftslehre an der TU Ilmenau. Von 1990 bis 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Oestrich-Winkel sowie selbständiger Berater und Trainer im Bereich Informationssysteme.