Im Folgenden lesen Sie das Transkript der Keynote Speech des MBS Semester Opening 2017, gehalten von Dr. Alfred Gossner, Präsident der Munich Business School.
Lieber Hr. Baldi, liebe Studierende der MBS, meine Damen und Herren,
ich darf Sie zur Semestereröffnung sehr herzlich begrüßen. Viele der Anwesenden – insbesondere die Professoren und andere Mitarbeiter der MBS, aber auch die „älteren Semester“ – haben ähnliche Veranstaltungen in den Vorjahren schon erlebt. Für andere, wie die Erstsemester und auch für mich, ist es eine Premiere. Für uns alle aber ist es der Auftakt zu einem neuen Jahr des gemeinsamen Arbeitens und Lernens.
Als ich vor einigen Tagen darüber nachdachte, was ich bei dieser Gelegenheit zu Ihnen sagen sollte, fiel mir auf, dass das keine einfache Aufgabe ist. Erlauben Sie mir daher einige Vorbemerkungen, auch im Sinne eines effektiven Erwartungsmanagements, um die Latte nicht zu hoch zu hängen.
- Man hat mir kein Thema vorgegeben, das ich nach den üblichen Kriterien sauber abarbeiten kann.
- Dies meine erste derartige Veranstaltung und ich kann daher nicht auf historische Erfahrungen zurückgreifen. Prof. Dr. Baldi hat meinen zarten Hinweis, ein früherer Redetext meines Vorgängers könnte hier hilfreich sein, schlicht ignoriert. Ich glaube, man kann hier von Vorsatz ausgehen, und vielleicht war es auch gut so.
- Ich kenne weder Sie noch die MBS wirklich und kann daher nicht abschätzen, inwieweit allgemeine Reflexionen über die Rolle der Wissenschaft und die Aufgaben der Hochschulen bei der Ausbildung junger Menschen für künftige Berufswege als Manager bzw. Unternehmer für die MBS zutreffen. Insofern können Sie – im Sinne meines Erwartungsmanagements – keine programmatische Rede erwarten, weil diese bekanntlich eine Bestandsaufnahme des Ist-Zustandes erfordern würde.
- Mein ohnehin knappes Zeitbudget, solange ich noch im Fraunhofer-Vorstand tätig bin, hat sich in den letzten Wochen durch einen schweren Sportunfall meiner Frau zusätzlich verengt. Ich darf Goethe zitieren, der einen Brief an seine Schwester einmal mit den Worten begann: „Ich habe wenig Zeit, also schreibe ich Dir einen langen Brief.“
Ich wende mich mit meinen folgenden Überlegungen zuerst und auch primär an unsere Studierenden. Sie stehen im Mittelpunkt, für Sie existiert die MBS letztlich.
Was können Studierende von den Wissenschaften erwarten?
Sie, die Studierenden, haben sich dazu entschlossen, Ihre berufliche Laufbahn in primär kaufmännischen Aufgabenfeldern durch eine wissenschaftliche Ausbildung vorzubereiten bzw. weiter zu fördern. Dies ist – gerade auch im Kontext einer privaten Hochschule, die Studiengebühren verlangen muss – in wirtschaftlicher Sicht eine „Investitionsentscheidung“: Sie investieren in Ihr Humankapital und als Ertrag erwarten Sie vermutlich einen attraktiveren Berufsweg in anspruchsvollen Positionen, der Ihnen sowohl höhere finanzielle Erträge als auch mehr persönliche Zufriedenheit (Selbsteinschätzung, sozialer Status) ermöglichen soll. Natürlich gibt es auch noch andere Motive für eine Studienentscheidung.
In diesem Kontext scheint mir eine wichtige Frage so zu lauten:
Was können Sie von ihrer wissenschaftlichen Arbeit (und damit auch von den Wissenschaften) erwarten und was sollten Sie angesichts knapper Ressourcen (und die knappste Ressource ist immer die Zeit) bei Ihrer Beschäftigung mit den Wissenschaften beachten – auf Ihrer Seite, aber auch auf Seiten der Hochschule –, damit Ihnen die Befassung mit Wissenschaft möglichst viel für ihr späteres Leben – beruflich und privat – nützt.
Das sind keine einfachen Fragen, deren Beantwortung in so einer Semestereröffnungsansprache sicher nicht abschließend gelingen kann. Aber weil ich kein Interesse daran habe, hier nur als freundlicher Grußonkel zu agieren, versuche ich es, obwohl vieles skizzenhaft bleiben wird.
In guter akademischer Tradition müsste man zunächst „Wissenschaft“ definieren. Das allein könnte man abendfüllend gestalten. Ich verwende daher eine ganz simple Definition: Wissenschaft ist die Tätigkeit, bei der ein Sachverhalt mit objektiven und nachvollziehbaren Methoden systematisch beschrieben und untersucht wird. Objektiv (oder begründbar), nachvollziehbar (d.h. transparent) und systematisch sind die Schlüsselworte. Es geht bei dieser Definition primär um eine Tätigkeit und eine geistige Haltung, keine Institution, Fächerabgrenzung oder Traditionspflege.
„Sachverhalt“ schließt ein: physikalische Objekte, biologische Organismen, soziale Systeme etc. Genauer: die Daten, die wir über solche Objekte, Organismen und Systeme in der Gegenwart, aber auch in der historischen Entwicklung haben.
„Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie“
Zwei wesentliche Aspekte bei der Befassung mit Wissenschaft möchte ich kurz ansprechen:
- Wissenschaft hat es – fast immer – mit zwei Intentionen zu tun: Zunächst kommt – auch in der historischen Entwicklung – das Erkennen von Sachverhalten, letztlich von dem, was uns als Realität erscheint. Auf der Basis erkannter Zusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten etc. folgt dann das Gestalten, d.h. die bewusste Beeinflussung und Veränderung von Realität bzw. die bewusste Neuschaffung von Objekten. Ein paar Beispiele: Auf der Basis der Erkenntnisse aus Physik und Geometrie haben Ingenieure die Regeln der Statik entwickelt, die uns gestatten, ziemlich sichere Brücken oder Hochhäuser zu bauen. Aus der physikalischen Erkenntnis des Aufbaus der Materie auf atomarer Ebene – Elektronen etc. – wurde die moderne Mikro- und Nanoelektronik entwickelt, die uns Daten- und Signalverarbeitung mit ungeheuren Volumina und Geschwindigkeiten ermöglicht und damit die Grundlage der Digitalisierung geschaffen hat.
- Lassen Sie sich nicht verführen, an den angeblichen Gegensatz von Theorie und Praxis zu glauben, der vor allem von denen beschworen wird, die die Theorie, ihre Intentionen, aber auch Grenzen nicht verstehen. David Hilbert (der große Mathematiker) hat recht mit seiner Äußerung „Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.“ Die Betonung liegt auf gut, d.h. eine zutreffende und damit auch relevante Theorie.
Die drei Ebenen wissenschaftlicher Begegnungen
Wissenschaft begegnet Ihnen – bzw. sollte Ihnen begegnen – bei Ihrer Ausbildung, aber auch in späterer Berufstätigkeit vor allem auf drei Feldern bzw. Ebenen:
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Die Ebene der Fachwissenschaft
In Ihrem Fall sind das die Wirtschaftswissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der Teildisziplinen, die sich mit Management (i.d.R. von Unternehmen) befassen. Hier geht es zunächst um das Erkennen wirtschaftlicher Organisationsformen, ihrer Strukturen und Abläufe, insbesondere entlang den Wertschöpfungsketten, des Zusammenwirkens wesentlicher Funktionsbereiche von der Beschaffung über die Produktion bis zur Vermarktung, um die Abbildung und Messung von Aktivitäten in Informations- und Steuerungssystemen, um die Interaktionen mit dem wirtschaftlich relevanten Umfeld der Organisationen, das die Abläufe und Ergebnisse einer Organisation wesentlich beeinflusst. Begriffsklärungen, Typologien und die Beschreibung von Wirkzusammenhängen stehen im Vordergrund.
Nach dem Erkennen geht es dann aber primär um das Gestalten der Organisationen im Sinne eines zielorientierten Managements, wobei die Ziele meist als dem Management (durch Eigentümer, aber auch die Zwänge des Wettbewerbs) vorgegeben erscheinen. Strukturen, Prozesse, Funktionsbereiche, Systeme sollen optimiert werden, um optimale Zielerreichung zu ermöglichen.
Ihre Fachwissenschaft sollten Sie im Detail kennenlernen, d.h. die wesentlichen methodischen Ansätze, deren inhaltliche Erkenntnisse und Grenzen, die verfügbaren Tools (etwa aus der Statistik), um z.B. Daten zu analysieren etc. Erwartet wird – in der Praxis –, dass Sie den analytischen Rahmen und die Instrumente der Fachwissenschaft auf unterschiedliche betriebliche Situationen anwenden können, um diese zu steuern und vor allem weiter zu verbessern im Sinne der Zielerreichung. Diese „Übertragungsleistung“ muss vor allem gefördert werden, sie gelingt nicht auf der Basis von passivem Lernen von Buchinhalten. Fallstudien stellen ein gutes Mittel dar, diese Kompetenz zu trainieren. Statt nur theoretische Konzepte oder Methoden ohne konkreten Kontext wiederzugeben, können Sie in Fallstudien lernen, die abstrakten Konzepte und Tools anzuwenden und miteinander zu kombinieren, wobei deren Auswahl und Einsatz von der praktischen Problemstellung des Falles bestimmt wird.
Welchen Anteil wird die Wissenschaft bei Ihrer künftigen Tätigkeit in Unternehmen haben? Das wird natürlich von der Art der Tätigkeit abhängen und kann daher nicht allgemein beantwortet werden. Aus meiner persönlichen Erfahrung mit knapp 40 Berufsjahren und davon mehr als 32 Jahren als Führungskraft (davon 27 als Vorsitzender bzw. Mitglied von Geschäftsleitungen) möchte ich jedoch sagen, dass für Managementaufgaben, d.h. das Entscheiden über Aktivitäten und Programme in komplexen Situationen bei oft sehr begrenzter Information, die betriebswirtschaftlichen Theorien und Instrumente im direkten Einsatz vielleicht zwischen 20 und 30 %der Lösung bestimmen, während der Rest aus situationsspezifischer Analyse und Erfahrung besteht. Das klingt ernüchternd. Es bedeutet aber nicht, dass sich solche akademische Ausbildung nicht lohnt. Zwar können sie in der konkreten Situation im Unternehmen selten im Lehrbuch nachschlagen und dort punktgenau die Lösung finden, jedoch nützt Ihnen die Fähigkeit, kritisch und unvoreingenommen an eine Situation heranzugehen, analytische Instrumente einzusetzen, wo sie zusätzliche Erkenntnis versprechen, und insbesondere in komplexen Systemen zu denken, d.h. die wesentlichen Wirkzusammenhänge und Rückkopplungen in Ihre Überlegungen einzubeziehen, ganz wesentlich. In diesem Sinn ist das Fachstudium in mancher Hinsicht wie gutes Training zu sehen, das den Sportler erst befähigt, besondere physische Leistungen im Wettkampf zu erbringen.
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Die Ebene der Technik- und Naturwissenschaften
Wissenschaft begegnet Ihnen aber auch in der Gestalt der Natur- und Technikwissenschaften: Zum Verstehen und vor allem zum Gestalten wirtschaftlicher Organisationen gehört unabdingbar das Erkennen und Verstehen des wirtschaftlich und gesellschaftlich relevanten Umfeldes der Organisation. Die erste Frage lautet: Welche Umweltfaktoren wirken heute auf die Organisation ein – fördernd und hemmend? Die zweite, noch viel komplexere Frage lautet: Wie wird sich das wirtschaftliche und gesellschaftliche (politische) Umfeld verändern, welchen Entwicklungsprozessen unterliegt es und wie werden sich diese Veränderungen auf die Organisation auswirken? Es ist trivial festzustellen, dass unsere moderne Welt sich zunehmend unter dem Einfluss wissenschaftlicher und technologischer Durchbrüche entwickelt und dass solche Innovationsschübe mit erheblichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Disruptionen verbunden sind. Eine populäre Darstellung dieser Prozesse sind die Zyklen des russischen Ökonomen Kondratjeff, der die Entwicklung von ca. 1780 bis 1990 von fünf großen technologischen Schüben bzw. Phasen geprägt sieht:
- Dampfmaschine und Industrialisierung (Mechanik, Eisen);
- Eisenbahn, Telegraphie, Fotographie;
- Elektrifizierung, Automobil, Chemie;
- Elektronik, Kernkraft, Kunststoffe, Raumfahrt;
- IT, Internet, Unterhaltungs-Elektronik.
Über den sechsten Kondratjeff-Zyklus wird gerne gerätselt. Für mich besteht kein Zweifel, dass ein zentrales Element davon die Digitalisierung ist bzw. sein wird, deren Bedeutung als Querschnittstechnologie und -trend bereits offensichtlich ist.
Die Digitalisierung ist aktuell dabei, ganze Branchen neu zu definieren und bisherige Geschäftsmodelle durch neue Modelle zu ersetzen. Einige Beispiele illustrieren das:
- AirBnB organisiert auf seiner Plattform mehr Beherbergungsvorgänge in der Welt als jeder andere Akteur auf diesem Feld – ohne ein einziges Hotel zu besitzen.
- Uber revolutioniert die Taxi-Industrie, ohne eine eigene Fahrzeugflotte zu besitzen – jedenfalls dort, wo man nicht hofft, diese Form der Sharing Economy durch Regulierung verhindern zu können.
- Die zum Teil schon verfügbaren bzw. erwarteten technologischen Durchbrüche im Rahmen der Digitalisierung (künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen, analytische Auswertung von Big Data) und der Sensorik werden dazu führen, dass sich Produktions- und Logistikprozesse über Wertschöpfungsketten hinweg selbständig organisieren und mit dieser „Industrie 4.0“ Millionen bisheriger Jobs in der Fertigung verloren gehen. Neuartige Jobs zwecks Entwicklung und Betrieb solcher Systeme werden entstehen.
- Die genannten Komponenten der Digitalisierung werden auch eingesetzt werden, um in Verbindung mit neuen Kommunikationsnetzen wie 5G das autonome Fahren zu ermöglichen, d.h. Fahrzeuge, die untereinander kommunizieren, selbständig im Straßenverkehr zu bewegen. Das wird Verkehrsflüsse optimieren, die Zahl der Unfälle deutlich reduzieren und Berufsfahrer arbeitslos machen.
- Schließlich wird Digitalisierung die Art des Lehrens und Lernens verändern und damit unser eigenes Geschäft hier betreffen.
Analog könnte man andere Technologien mit Disruptionspotenzial (Quantencomputing, Robotik, erneuerbare Energien etc.) kommentieren.
Diese technologischen Umbrüche werden zu tiefgreifenden Veränderungen in Unternehmen und volkswirtschaftlichen Strukturen führen, zu deren Bewältigung nicht mehr das graduelle Nachjustieren bewährter Prozesse und Strukturen genügt.
Wenn Sie in Zukunft in Unternehmen Verantwortung tragen, sollten Sie nicht nur verstehen, welche Kräfte das aktuelle Umfeld geprägt haben, sondern vor allem, mit welchen technologischen Entwicklungen man rechnen kann und sollte. Kurz: Sie sollten wesentliche Ergebnisse der Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie deren wirtschaftliche und soziale Implikationen verstehen. Es geht hier – im Unterschied zu Ihrer Fachwissenschaft – nicht darum, Sie alle zu Naturwissenschaftlern bzw. Ingenieuren zu machen, zumal heute ohnehin niemand die ganze Bandbreite dieser Fächer in der wissenschaftlichen Tiefe der Einzeldisziplinen beherrschen kann.
Wir werden jedoch in einer Business School mit den Studierenden verstärkt darüber nachdenken müssen, wie wir dieses Verständnis der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Implikationen technologischer Veränderungen und Disruptionen gezielt entwickeln können – und damit Ihre Anwendungskompetenzen für die Praxis stärken können. Auch dafür sehe ich, neben der Vermittlung von Grundlagenkenntnissen, technologisch unterlegte Fallstudien als ein interessantes Mittel.
Ich muss hier offen einräumen, dass ich solche Aussagen als junger Doktor der Wirtschaftswissenschaften vermutlich nicht getroffen hätte. Ich war zwar kein neoklassischer Anhänger von Gleichgewichtstheorien, sondern habe mich selbst mit makroökonomischen Ungleichgewichten und der induzierten Dynamik bei Beschäftigung, Lohnniveaus etc. beschäftigt. Die Bedeutung von technologischer Dynamik und Disruption für die Entwicklung von Volkswirtschaften und Unternehmen, auf die uns früh Joseph Schumpeter hingewiesen hat, hat sich mir auch erst im Rahmen meiner Tätigkeit bei der Fraunhofer-Gesellschaft erschlossen.
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Die Ebene der Werte und der Kultur
Eine dritte Ebene, auf der Sie der Wissenschaft begegnen werden – bzw. sollten –, bezieht sich auf das Thema „Werte und Kultur“.
Werte als Teil einer „Kultur“ prägen das Verhalten von Menschen, ihre Motivation, ihren Teamgeist, ihr Verantwortungsbewusstsein. Eine gemeinsame und aktiv gelebte Wertebasis der Unternehmensmitarbeiter wird die Ergebnisse des Unternehmens oft mehr prägen als einzelne betriebswirtschaftliche Optimierungsmaßnahmen oder Strategien. Die Amerikaner sagen: „Culture eats strategy for breakfast – and structure for lunch.”
Werte werden in den Kultur- und Geisteswissenschaften reflektiert und insbesondere in der Philosophie. Das Entstehen von Wertesystemen in menschlichen Gemeinschaften ist komplex und kurzfristig wenig beeinflussbar. Wir leben heute vielfach noch von Werthaltungen, die in früheren Zeiten entstanden sind und nicht notwendigerweise in Zukunft verbreitet sein werden. Max Weber hat in seinem Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ eindrucksvoll analysiert, wie typische Haltungen, die für eine Marktwirtschaft wichtig sind – wie z.B. der sprichwörtliche schwäbische Fleiß im Gefolge des Calvinismus und dessen Askesegebots, d.h. einer spezifischen protestantischen Religionsausprägung –, entstanden sind.
In einem Unternehmen geht es jedoch nicht nur darum zu verstehen, welche Werte die Mitarbeiter motivieren und beeinflussen, sondern auch um die aktive Gestaltung bzw. Begründung von Werten. Dabei geht es nicht nur um die persönlichen Werte, die einzelne Menschen motivieren, sondern vor allem auch um die Werte des Unternehmens/der Organisation, die letztlich auch ihren Zielen zugrunde liegen. Diese Ziele und Werte wurden in der Literatur traditionell als aus der Sicht der Wirtschaftswissenschaften gegeben angesehen, durch die Eigentümer, Aufsichtsgremien bzw. die Zwänge der Konkurrenz. Milton Friedman brachte diese Sicht so auf den Punkt: „The business of business is business“. Eine Wertediskussion ist danach weder nötig noch möglich.
Ich teile diese Sicht nicht und halte die glaubwürdige Befassung des Managements mit Wertefragen für wichtig. Dafür sehe ich vor allem drei Gründe:
- Werte sind nicht objektiv eindeutig ableitbar wie mathematische Theoreme. Das hat die Philosophiegeschichte eindeutig gezeigt, die voll ist mit Versuchen, Wertehierarchien zu begründen bzw. auch zu widerlegen. Wenn man zusätzliche Annahmen trifft, wie z.B. in der christlichen Theologie die Existenz Gottes, ist die weitere Ableitung eines Wertekanons relativ einfach. Die Pluralität möglicher Wertesysteme hat oft zu einer Haltung des Werterelativismus geführt – anything goes – oder sogar zur Ablehnung von „Wert“ als philosophischer Kategorie. Ludwig Wittgenstein sagt im „Tractatus logico-philosophicus“: „Es gibt keinen Wert – und wenn es ihn gäbe, hätte er keinen Wert.“ Jedoch sind rationale Begründungen von Werten durchaus möglich, wie z.B. J. Rawls in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ gezeigt hat.
Auf der Ebene von gesellschaftlicher Organisation werden Werte heute nicht mehr aus philosophischen Prämissen abgeleitet, sondern oft durch qualifizierte Mehrheitsbeschlüsse gesetzt, z.B. durch eine verfassunggebende Versammlung oder durch Beschluss von Staaten wie im Fall der UN-Menschenrechtscharta. Damit beziehen sie ihre Geltung und Legitimität aus qualifizierten Wahlakten.
- Trotz der grundsätzlichen Pluralität von Wertesystemen haben die Menschen in allen Kulturen das Bedürfnis nach Werten, die den Einzelnen und der Gemeinschaft zur Orientierung des Handelns dienen sollen. Grundwerte wie z.B. der Schutz von Leben und Gesundheit vor willkürlichen Angriffen sind dabei in den meisten Gesellschaften ähnlich ausgeprägt. Kurz gesagt: Wir Menschen brauchen gemeinsame Werte. Die Reflexion und Diskussion gemeinsamer Werte stärken den Zusammenhalt von Teams.
- Wert- und Zielvorstellungen von Stakeholdern (außen) und Mitarbeitern (innen) passen nicht automatisch perfekt zusammen. Es zählt zu den zentralen Aufgaben insbesondere des Top-Managements, hier zu vermitteln und diese Wertsysteme kompatibel zu machen.
In Summe: „Werte“ sind eine der großen Herausforderungen im Management. Es ist klar, dass wir sie nicht nach Belieben, z.B. zwecks Förderung wirtschaftlicher Ziele, beeinflussen können. „A new culture by tomorrow“ ist nicht möglich. Ebenso klar ist, dass wir sie nicht einfach sich selbst überlassen sollten. Werte vermitteln den Menschen Sinn und Motivation und ein Vakuum kann schnell gefüllt werden von obskuren Ratgebern und Ideologien. Wir sollten im Management den Dialog über Werte führen können, nicht als Belehrung, sondern als Hilfe zur eigenen Reflexion.
Dieser Dialog über Werte und die Möglichkeiten ihrer Begründung sollte daher Teil einer managementorientierten Ausbildung sein. Die MBS Werte „innovativ denken, verantwortungsvoll handeln und weltoffen leben“ bilden hier einen sehr guten Ausgangspunkt.
Gestatten Sie wieder eine persönliche Anmerkung: Die Bedeutung von Werten und deren Begründung ist mir als junger Führungskraft bei der Allianz-Gruppe wenig aufgefallen. Im Rückblick lag es daran, dass ich mit einem relativ homogenen Team junger Leute gearbeitet hatte, die aufgrund der Auswahl ähnliche Werte teilten.
Sie wurde mir schlagartig deutlich, als ich als CEO von Allianz Südafrika nach Johannesburg zog, wo sich soeben das Ende der Apartheid und der Übergang zu einem neuen politischen System vollzog. Hier wurde fast täglich in den Medien, aber auch in den Unternehmen, über sehr unterschiedliche Wertesysteme bei der Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft diskutiert.
Denken lernen
Liebe Studentinnen und Studenten, ich hoffe, ich habe Ihnen vermitteln können, dass in meiner Sicht Wissenschaft wichtig ist für Ihre Ausbildung, in einem breiten, aber differenzierten Verständnis. Dabei geht es nicht um Scholastik, also das Lernen eines akzeptierten akademischen Wissenskanons, den man möglichst fehlerfrei wiedergeben kann. Es geht um „Denken lernen“ und zwar um „praktisches Denken“, das auf die Lösung realer Probleme gerichtet ist. Dies ist ein dialektischer Prozess: Man lernt eine Systematik bzw. Methoden z.B. des Marketings oder der Unternehmensbewertung und man nützt diese dann für die Lösung praktischer Probleme. Dabei kann die praktische Anwendung in einem Fall durchaus dazu führen, dass man Systematik bzw. Methoden verbessert.
Die „Wissenschaft des Managements“ verstehe ich dabei im Schwerpunkt primär als Handlungswissenschaft, die uns hilft, komplexe Entscheidungssituationen unter Einsatz der verfügbaren Ressourcen optimal vorzubereiten und umzusetzen.
Es geht letztlich darum, entscheidungs- und handlungsfähige Persönlichkeiten auszubilden und zu entwickeln, die auf der Basis begründeter und gelebter Werte sowie fachlicher Expertise Verantwortung übernehmen können und wollen. Dieser ganzheitliche Ansatz scheint mir ein wesentliches Ziel der MBS zu sein und ist zugleich ein wichtiges Motiv für mein Engagement an dieser Stelle.
Dieses Ziel einer ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung ist übrigens nicht nur ein Reflex humanistischer Traditionen in Europa und damit ein Luxus, den wir uns leisten wollen. Es ist vielmehr blanke Notwendigkeit in der modernen Welt, deren Komplexität und Verwerfungen deutlich zunehmen. Ohne wertgeleitetes, fachlich fundiertes und globale Entwicklungen berücksichtigendes Management werden wir es nicht schaffen.
Ich möchte Sie ausdrücklich auffordern: In diesem Sinn sollten Sie ihr Studium verstehen und das sollten Sie einfordern.
„Vorne ist immer Platz“
Damit komme ich – sehr kurz – zur „anderen Seite“ des Hauses, den Dozenten und Mitarbeitern der MBS, die Ihnen eine hochwertige Ausbildung und Bildung anbieten und ermöglichen sollen. Die Kürze bedeutet nicht, dass ich Ihre Arbeit geringschätze. Aber neben dem knappen Zeitbudget ist sie auch dadurch zu rechtfertigen, dass sich aus meinen Überlegungen zur Gestaltung des Studiums automatisch Aufgaben und Verantwortlichkeiten für Sie – und mich – als Dienstleister ergeben. Wir müssen den hochwertigen Content entwickeln und anbieten, wir müssen kritische Diskussion ermöglichen und einfordern und wir müssen auch Werte glaubhaft begründen und vorleben.
Dazu brauchen wir den Enthusiasmus der Lehrenden und keine „Lehrbeamten“. Persönlichkeitsentwicklung und Bildung ereignen sich letztlich im Austausch zwischen Personen und nicht durch Nutzung technischer Systeme. Wir werden kritisch prüfen, welche neuen Möglichkeiten z.B. die Digitalisierung für die MBS bietet, insbesondere ob sie uns zusätzliche Freiräume für die persönliche Begegnung zwischen Dozenten und Studenten ermöglicht.
Wenn wir es schaffen, in der MBS gemeinsam den hier skizzierten Anspruch einzulösen, dann wird das auch unsere Wettbewerbsposition im Hochschulmarkt günstig beeinflussen. Dann kann man Michael Schumacher zitieren, der einmal für die Formel 1 sagte: „Vorne ist immer Platz.“
Meine Damen und Herren, ich wünsche uns allen ein erfolgreiches akademisches Jahr und heute eine heitere Eröffnungsfeier mit neuen Begegnungen und guten Gesprächen.