Unsere Arbeitswelt verändert sich und damit auch die Anforderungen an Führungskräfte. Wie sieht gute Führung heutzutage aus? Wie müssen Führungskräfte auf New Work und Arbeiten 4.0 reagieren? Und wo gibt es noch Defizite? In unserem Interview betrachten wir diese Fragen aus der Forschungs-, Coaching, und Praktikerperspektive: Ellen Schmid, MBS Professorin für Responsible Leadership, Gabriele Müller, Coach und Inhaberin des Berliner Coaching Centers ISCO, und Sven Zimmermann, Geschäftsführer der blu Professionals GmbH und Vorstand der blu Gruppe AG, geben Antworten.
MBS Insights: Wie sollten Führungskräfte mit der veränderten Arbeitswelt umgehen?
Sven Zimmermann: Führungskräfte sollten zuerst grundsätzlich verstehen, dass sich ihr Aufgabengebiet verschoben hat – von Prozesswächter*innen und Berichtempfänger*innen hin zu Servant Leaders, die dafür sorgen müssen, dass das Team stets optimale Rahmenbedingungen vorfindet, um eigenständig agieren zu können. Durch diese Verschiebung muss die Führungskraft nun vermehrt als integraler Bestandteil des Projektteams wahrgenommen werden, welcher sich darum kümmert, dass das Projektziel erreichbar bleibt.
Diese neuen Bedingungen verlangen gleichzeitig neue Organisationsmodelle, aber allem voran mehr Menschlichkeit, Transparenz und einen größeren Rahmen zum Ausleben und Ausprobieren ohne starre Prozessvorgaben.
Es sind vor allem die emotionalisierenden Themen, mit denen man seine Mitarbeitenden gewinnt. Dies soll nicht bedeuten, dass jedes Team agiert, wie es ihm gefällt. Auf der emotionalen Ebene geht es in erster Linie darum, das Warum zu erklären, das Wir zu fördern und zu leben. Das alles kann nur durch ein komplettes Umdenken der bisherigen Führungsmodelle umgesetzt werden
Ellen Schmid: Die Arbeitswelt verändert sich und daraus ergeben sich stetig neue Herausforderungen für Führungskräfte: Komplexer werdende Abläufe führen dazu, dass Führung zunehmend bedeutet fördern und fordern und gleichzeitig individuell befähigen.
Dies bringt die unterschiedlichsten Herausforderungen mit sich: Wie können Führungskräfte in der digitalen Arbeitswelt die Eigeninitiative der Mitarbeitenden fördern? Wie kann man in agilen Teamstrukturen auch ohne formale Autorität motivieren? Führungskräfte müssen sich diesen Herausforderungen stellen, alte Denkmuster aufbrechen und sich stetig weiterentwickeln.
MBS Insights: Welche Rolle übernimmt Coaching in der veränderten Arbeitswelt?
Gabriele Müller: Aktuell befinden wir uns in einer Krise. Die Situation, die wir gegenwärtig erleben, ist für jede*n von uns neu und sie ist für alle beängstigend. Aus diesem Grund stehen im Moment die Unternehmen und deren Führungskräfte vor erheblichen Herausforderungen.
Die Digitalisierung muss vorangetrieben werden, um die Chancen für Veränderung anzugehen. Daher wird Coaching zurzeit sehr stark für den Austausch genutzt: Austausch darüber, wie es andere Unternehmen machen, d.h. Lernen von positiven Erfahrungen anderer. Des Weiteren Austausch darüber, welche Schritte Sinn machen, welche strategischen Vorteile sich daraus ergeben und vor allem wie die Mitarbeitenden in dieser schweren Zeit entlastet werden können. Häufig erwarten die Coachees Hilfe für neue Handlungsmöglichkeiten, haben jedoch wenig Zeit und sind in der jetzigen Krise ziemlich angespannt, d.h. sie hätten gern ein Coaching ohne großen Aufwand und den Prozess so schnell wie möglich abgeschlossen. Auf Grund der veränderten Arbeitswelt ist es jedoch gerade jetzt besonders wichtig, den Nutzen für das Unternehmen durch das Coaching darzustellen und herauszuarbeiten. Dabei gilt es, keine Zeitvorgaben zu machen, wie lange der Prozess dauern soll, sondern eher flexibel und bedarfsorientiert vorzugehen und den tatsächlichen Erfolg entscheiden zu lassen und nicht die Länge des Coachings. Der Coach geht häufig in eine beobachtende Rolle, um anschließend mit dem Coachee aus dieser Rolle heraus zu reflektieren, wann Schritte lösungsförderlich und wann sie problemstabilisierend sind. Ziel des Coachings ist es, weitere effektive Handlungsoptionen zu erarbeiten.
MBS Insights: Wo bemerken Sie heute bei Führungskräften die größten Defizite?
Sven Zimmermann: Bei jeder Art von Zusammenarbeit zählen soziale Kompetenzen zu den wertvollsten Fähigkeiten. Genau das kommt in vielen Unternehmen noch immer zu kurz. Schlussendlich leidet darunter die Menschlichkeit. Hier gilt: weniger Prozesse, mehr Kommunikation und Transparenz.
Historisch bedingt galt lange Zeit das Karotten-Prinzip als Motivations-Methode. Sprich: Folge ich treu den festgelegten Prozessen, werde ich z.B. in Form von Beförderungen oder Prämien belohnt. Diese grundsätzliche Haltung aus den Köpfen der Führungskräfte herauszubekommen, wird die Herausforderung der nächsten Jahre sein. Dafür wird ein hohes Maß an Veränderungsbereitschaft und praktischer Anwendung nötig sein, das aktuell in vielen Unternehmen fehlt.
Ellen Schmid: Die Herausforderungen für Führungskräfte werden durch die unterschiedlichen Branchenanforderungen, die schnellen Innovationszyklen und die höhere Autonomie in der Arbeit immer individueller – und damit werden auch die Entwicklungspotentiale der einzelnen Führungskräfte immer individueller. Dadurch wird Reflexion, also sich selbst hinterfragen, die eigenen Stärken, aber auch Defizite kennen, zentral. Wie kann das in der Praxis aussehen? Sie nehmen sich pro Tag fünf Minuten Zeit (vielleicht auf dem Nachhauseweg oder bei der Vorbereitung des Abendessens), um zu analysieren, welche Herausforderungen es an dem Tag gab und was gut und was schlecht gelaufen ist. Ebenfalls effektiv kann es sein, sich mit Kolleg*innen auszutauschen. Beispielsweise indem sich zwei Führungskräfte aus unterschiedlichen Abteilungen einmal pro Woche (virtuell) zusammensetzen und über ihre Herangehensweisen sprechen. So etwas ist im Alltag häufig gut und einfach umzusetzen. Studien zeigen übrigens: Wer am Ball bleibt und regelmäßig reflektiert, der wird relativ schnell mit Fortschritten belohnt.
Gabriele Müller: Die Mitarbeiter*innen in den Unternehmen machen sich verständlicherweise Sorgen, wie ihre berufliche Zukunft aussehen wird, weshalb Führungskräfte stärker als Unternehmensgestalter*innen agieren sollten. Um zu gestalten, brauchen Führungskräfte allerdings Coaching-Kompetenzen. Hier erlebe ich das größte Defizit. Auffällig ist hierbei zum einen der Umgang mit Nähe, Distanz und Privatsphäre im Homeoffice, zum anderen wie es gelingen kann, ohne persönlichen Kontakte die Mitarbeitenden zu motivieren und bei der Stange zu halten und dennoch Ziele und Vereinbarungen durch den gemeinsamen Dialog auszuhandeln.
Bei Führungskräften, die neu in ihrer Rolle sind, bemerke ich, dass sie Mühe haben, Vertrauen aufzubauen und die Balance von Verantwortung und dem Nichtwissen, welches teilweise durch Homeoffice verursacht wird, zu halten.