Wissenschaftliches Arbeiten (Teil 1): Was ist Wahrheit?

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Niemand von uns würde sich selbst als Lügner bezeichnen. Wir nehmen für uns in Anspruch, die Wahrheit zu sagen. Aber kennen wir diese auch? Wir alle haben Interessen, Anschauungen und Wertprägungen, die unsere ganz eigene Sicht auf die Dinge und Fakten prägen. Demnach könnte es viele Wahrheiten geben – oder gar keine.

Nehmen wir ein aktuelles Thema: Die Erbschaftsteuer (ErbSt) in Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht hat die Regierung dazu verpflichtet, die Steuer zu reformieren. In den Medien werden hierzu politische Auseinandersetzungen und Diskussionen geführt.

Verschiedene Wahrheiten

Sehen wir uns verschiedene Wahrheiten dazu an: Bin ich selbst von der Steuer betroffen, so prägen meine Interessen meine Meinung über die Steuer vermutlich entscheidend. Mein Wertesystem (Gerechtigkeitsstreben, staatsbürgerliches Denken, politische Ausrichtung) kann diese Meinung verstärken oder mildern. Diskussionen in den Medien können mich beeinflussen. Natürlich werde ich mich aus Zeit- und Kostengründen auf wenige Medien beschränken und aus der verfügbaren Vielfalt eine die eigene Haltung bestätigende Auswahl treffen.

Zusätzlich erfolgt die Auswahl aus den zur Kenntnis gebrachten Informationen oder Argumenten meist selektiv, was meine Meinung eher bestätigt. Objektiv bin ich also nicht und ich werde von meinem Einzelfall auf das schließen, was ich für richtig halte, z. B.: „Die Steuer ist ungerecht, denn die Erbmasse wurde ja schon beim Erblasser als Einkommen besteuert.“ Ich will meinen Standpunkt als allgemeine Rechtsauffassung durchsetzen, Recht bekommen. Aber meine Meinung wird meist nur im nicht-öffentlichen privaten Umfeld verbreitet.

Politiker[1] sind Interessenvertreter. Sie sind an ein Programm gebunden, das die Werte der Wählergruppen widerspiegelt, auf die ihre Partei abzielt. Politiker suchen die Öffentlichkeit, um Wähler anzuziehen. Sie nutzen jeden Moment, den die Medien bieten, um ihre bzw. die Position ihrer Partei zu verbreiten. Polemik, Rhetorik und gezielte Medienauftritte sind probate Mittel dazu. Objektivität würden Politiker allenfalls in privaten oder nicht-öffentlichen Diskussionen üben. Sie suche Mehrheiten durch Überzeugung, nicht nur durch Argumentation. Sie wollen Recht haben, damit sie die Wirklichkeit nach ihren Vorstellungen gestalten können.

Ein Steuerberater mag in seine private Meinungsbildung wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse einfließen lassen, er hat schließlich ein wissenschaftliches Studium als Basis für seine Berufstätigkeit absolviert. Als Berater ist er jedoch parteiisch. Er vertritt die subjektiven Interessen und das Wertesystem seiner Klienten und nutzt seine Fähigkeiten und Kenntnisse zu diesem Zweck. Auch falls er andere steuersystematische Auffassungen als seine Klienten hätte, würde er diese nicht in seine Beratung einfließen lassen. Sein Entgelt bemisst sich zumindest zum Teil am Erfolg seines Klienten.

Medienvertreter arbeiten anders. Natürlich gibt es hier große qualitative Unterschiede, zum Beispiel die Finanzierung von nationaler und internationaler Recherche, die Kapazität von Redaktionen, den Sachverstand, die Ausbildung und die Erfahrung redaktioneller Mitglieder betreffend. Außerdem existieren Medien mit weltanschaulicher Bindung oder großer redaktioneller Abhängigkeit von privaten Eigentümern oder überwiegender Ausrichtung auf den „Boulevard“. Aber diese existieren alle nebeneinander und mit etwas Nachdruck in der eigenen Recherche kann jeder aufgeklärte Mensch aus der relativen Vielfalt des Medienangebotes eine vernünftige Auswahl für seine Interessenlage treffen.

Die Medien als vierte Gewalt und Meinungsbildner

In einem demokratischen System gilt die von staatlichem Einfluss freie Medienlandschaft neben Legislative, Exekutive und Judikative als vierte Gewalt. Das politische System muss aus jeder Perspektive des demokratischen, d. h. im Rahmen der freien Meinungsausübung als legal zugelassenen Spektrums kritisiert werden können. Regelverstöße im politischen System sollen durch die Herstellung von Öffentlichkeit möglichst wenig Schaden anrichten.

MBS Academic WritingIm Gegensatz zu den oben skizzierten Positionen handelt der journalistisch tätige Mensch nicht in erster Linie als Interessenvertreter, sondern als Meinungsbildner. Seine Arbeitsweise speist sich aus der Recherche, seine Sorgfalt zeigt sich in der Quellenauswahl und -nutzung. Eine Nachricht, die nur aus einer Quelle stammt, die nicht klar zu beurteilen ist und nicht von anderer Seite bestätigt worden ist, werden gute Journalisten nicht oder nur unter Vorbehalt melden.

Es wird innerhalb eines Mediums zweckmäßigerweise zwischen verschiedenen Redaktionen unterschieden und innerhalb einer Redaktion zwischen verschiedenen Rubriken wie Meldung von Fakten, Kommentare, Leitartikel, Features, Glossen etc. Meist wird zu kontroversen Themen auch Meinungsvielfalt durch die Wiedergabe unterschiedlicher Positionen dargestellt. Ziel der Meinungsbildung bei privaten Medienorganen ist es natürlich, die Fakten in eine Position einzubinden, die die Redaktion vertritt. Es wird versucht, zu informieren, zu unterhalten und zu überzeugen. Die öffentlich-rechtlichen Medien dagegen werden durch Repräsentanten der „gesellschaftlich relevanten Gruppen“ kontrolliert. Sie werden sich deshalb weitgehend meinungsneutral äußern und die politischen und gesellschaftlichen Positionen durch entsprechende Diskussionen oder Diskussionsbeiträge zur Geltung kommen lassen (Talkshows, exponierte Recherchebeiträge etc.).

Wie geht also ein Leitmedium in Deutschland mit dem Thema „Erbschaftsteuer“ um? Vermutlich durch Meldung der Fakten (Urteil des BVerfG, Beschreibung des gegenwärtigen Systems, Recherche des Steueraufkommens, Positionen der handelnden politischen Parteien), Befragung von Betroffenen, Politikvertretern, Steuerexperten sowie Wissenschaftlern zur authentischen Darstellung der Meinungsvielfalt und natürlich – Kommentierung, z. B. im Politikteil im Leitartikel und im Wirtschaftsteil.

Qualitativ gute Medien werden selten versuchen, sich einseitig für eine Sache zu exponieren. Stattdessen belegen sie ihre Qualität, indem sie versuchen, alle Argumente zu würdigen und abzuwägen und die verschiedenen Interessen zu beschreiben. So können sie die Entscheidung am Ende möglichst objektiv analysieren und ihren Nutzern einen Beitrag zur gründlichen Meinungsbildung liefern. Sie wollen zuverlässig erscheinen, eher auf Dauer Recht behalten, um ihre Nutzerzielgruppen an sich zu binden. Sie versuchen also, bei aller Wertgebundenheit so viel Transparenz der Wirklichkeit wie möglich zu schaffen. Aber leider gibt es auch sehr obskure Geschäftspraktiken innerhalb der Medienbranche.

Alle Schwäne sind weiß?

Wissenschaftler haben am meisten mit Journalisten gemeinsam, denn ihre Arbeit beruht auf Recherche. Aber es unterscheidet sie auch eine Menge: So zweifeln sie zum Beispiel schon an, ob es so etwas wie Wahrheit oder Wissen überhaupt gibt. Kann man die Wahrheit über die Wirklichkeit allein durch rationales Denken erkennen? Das wird heute mehrheitlich bezweifelt. Kann sie dann durch die Sinne erfasst werden? Dies gilt als weitgehend bestätigt.

Aber nicht so weitgehend, dass eine wissenschaftliche Theorie über die Wirklichkeit als richtig gelten kann, weil bislang diverse empirische Studien nur Fakten geliefert hatten, die sie bestätigen. Sie gilt nur als vorläufig richtig, solange sie noch nicht falsifiziert worden ist: Auch wenn bisher nur weiße Schwäne gefunden worden wären, könnte die Hypothese „Alle Schwäne sind weiß“ nicht als richtig gelten, beim nächsten Test könnte man einen schwarzen Schwan finden. Das ist in der Realität ja tatsächlich passiert (siehe Abb. des Cygnus atratus, auch „Trauerschwan“ genannt).

MBS Academic WritingWenn ich als Wissenschaftler Wissen schaffen will, muss ich mich aller Vorurteile, Wertvorstellungen und persönlichen Meinungen so weitgehend wie möglich enthalten. Im Gegensatz zu Medien, in denen die Vielfalt der Meinungen und Interessen zum Ausdruck kommen soll, muss ich in meiner Rolle als Wissenschaftler in der Suche nach dem Wissen möglichst objektiv vorgehen. Da es unwahrscheinlich ist, dass ich als einzelner Mensch die Wahrheit für mich in Anspruch nehmen kann, muss ich Intersubjektivität herstellen: Vorläufig geltende Wahrheit entsteht erst, wenn eine Community von hinreichend kognitiv kompetenten Personen nach Würdigung der Faktenlage zumindest prinzipiell zu den gleichen Erkenntnissen kommt.

Das bedingt die Notwendigkeit, meine vorläufigen Ergebnisse in einem Medium zu veröffentlichen, das sich nicht an das allgemeine Publikum richtet, sondern an die Scientific Community eines wissenschaftlichen Fachgebietes; in einer Sprache, die nicht werten und nicht überzeugen möchte. Hier werden Veröffentlichungen nur vorgenommen, wenn sie von einem fachlich fundierten Lektorat unter Anwendung von Double-Blind-Tests zuvor für inhaltlich und stilistisch kompetent befunden wurden. Das wiederum bedeutet, dass die wissenschaftliche Recherche, anders als die journalistische, sich in der Darstellung des State of the Art und der Weiterentwicklung des eigenen Wissenschaftsgebietes fast ausschließlich auf wissenschaftliche Quellen stützen muss.

Natürlich gibt es auch in der wissenschaftlichen Welt eine gewisse Vielfalt der Theorien und Ansätze. Nicht umsonst spricht man oft von „herrschender Meinung“, wenn man die vorherrschende Theorie beschreiben möchte. Deshalb muss eine wissenschaftliche Recherche eine wesentlich größere Breite und Tiefe in der Quellenauswertung aufweisen als ein Tageszeitungsbeitrag oder ein Blogartikel. Aus dem Zweck der Schaffung neuen Wissens und meiner persönlichen Aufrichtigkeit ergibt sich natürlich, dass ich neues Wissen von altem Wissen absetze, in dem ich Transparenz bezüglich der verwendeten Quellen durch ein Quellenverzeichnis und fachgerechte Zitation herstelle.

Ein Spaß generierendes Kinderspiel

Ab jetzt ist wissenschaftliche Arbeit ein Spaß generierendes Kinderspiel. Ich muss nur noch in hoher sprachlicher Eleganz ein Geflecht von präzisen Definitionen, logischen Sätzen und gründlich geprüften Zahlen formulieren: Abgeleitet z.B. aus einer – auf gründlicher Recherche basierenden – finanzwissenschaftlichen Theorie zur Besteuerung in Staaten beschreibe ich die in Deutschland gegenwärtig akzeptierten Besteuerungsziele und -grundsätze und messe die ErbSt daran; ich liste außerdem die Kritik am gegenwärtigen System und die Alternativvorschläge auf, recherchiere Alternativen aus anderen Ländern und ziehe Vergleiche; ich beurteile das Steueraufkommen, wiege die Auswirkungen der verschiedenen Vorschläge und Alternativen ab, stelle Überlegungen zur Möglichkeit der Steuerverkürzung an; und schließlich bewerte ich in einer vergleichenden Übersicht mögliche Varianten (inklusive Abschaffung) nach Kosten und Nutzen.

So entsteht Wissen. Und es ist es wert, sich die dazu nötige Arbeitsweise anzueignen und zu erhalten.

 

 

[1] Gemeint sind stets beide Geschlechter. Aus Gründen der Lesbarkeit wird auf die Nennung beider Formen verzichtet.

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Über Prof. Dr. Wolfgang Zirus 22 Artikel
Prof. Dr. Zirus studierte Betriebswirtschaft in Regensburg. Er arbeitete einige Jahre für die Dresdner Bank (Kreditrevision) und machte sich dann als freier Dozent selbständig. In dieser Funktion arbeitete er auch für die Munich Business School, zunächst selbständig, dann als angestellter Dozent. Er promovierte berufsbegleitend an der LMU München über problemorientierte Lernumgebungen. Heute ist Prof. Zirus an der MBS Modulleiter und Dozent für finanzwirtschaftliche Fächer. Er arbeitet daneben weiter als selbständiger Dozent.
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Über Prof. Dr. Gabriella Maráz 34 Artikel
Gabriella Maráz ist Professorin für Interkulturelles Management und Methodenlehre mit den Schwerpunkten Informations- und Kommunikationspsychologie und Arbeitstechniken.