Klappe halten – Vom Reden und Schweigen

MBS Silence

Als ich zum ersten Mal von Untersuchungen hörte[1], die die Bedeutung des Schweigens für die Kommunikation zum Gegenstand hatten, war ich fasziniert: Dieses „Nichts“ war nicht nur sehr manifest, sondern auch noch unglaublich vielschichtig. Es konnte alles Mögliche bedeuten und wir Menschen verwenden das Schweigen – wenn man das so sagen kann – nur in den seltensten Fällen bewusst (etwa wenn wir meditieren – oder wenn wir uns bemühen, mal die Klappe zu halten, obwohl wir explodieren könnten), sondern – wie so vieles in der Kommunikation – unbewusst und folgen dabei Regeln, die unter anderem auch in unserer Kultur eingeschrieben sind.

Bereits bei Watzlawick/Beavin/Jackson heißt es: Man kann nicht nicht kommunizieren![2] So haben australische Ureinwohner Gebärdensprachen entwickelt, die sie verwenden, auch wenn sie dieselbe Sprache sprechen und sich ganz normal sprachlich verständigen könnten (Ethnologen und Linguisten unterscheiden sage und schreibe etwa 250 verschiedene Sprachen der Ureinwohner in Australien!), weil sie sich an gesellschaftliche Kontakttabus halten müssen. Das Sprechverbot zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn/-tochter gab diesen Sprachen ihren Namen: Schwiegermuttersprachen (mother-in-law languages; R.W. Dixon, der dies für die Dyirbal-Sprache beschrieb[3], distanzierte sich später von diesem Begriff und so bürgerte sich die Bezeichnung Vermeidungssprache, avoidance language, ein, die der Vielfalt der Tabus und der Vermeidungsstrategien besser Rechnung trägt).

Für die Kommunikation mit Tabuverwandten (z.B. der Schwiegermutter) wurden ausgeklügelte Formen der Standardsprache entwickelt mit lexikalischen Vermeidungsstrategien und für den Fall, dass ein Sprechverbot bestand, eben eine Gebärdensprache, wenn eine Kommunikation dennoch nötig war. Gebärdensprache als Vermeidungssprache wird auch bei anderen Sprechverboten verwendet. So sieht man z.B. in dem Dokumentarfilm von Desmond Morris „The Human Animal, Ep. 1 – Language in the Body“ zwei Frauen, beide weder taub noch stumm, die ansonsten die australische Ureinwohnersprache Warlpiri sprechen, bei einem gemütlichen Plausch – in einer komplexen Gebärdensprache gestikulierend; als Zeichen der Trauer über den Tod eines Stammesangehörigen dürfen sie über Monate nicht sprechen.[4]

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Das Schweigen spricht

Das Schweigen spricht: Folgen wir einer Präsentation, die nur sehr kurze Schweigephasen hat und bei der der Vortragende sich kaum Zeit lässt, um Luft zu holen, überträgt sich diese Atemlosigkeit sehr leicht auf uns. Ein Gefühl von Druck, Hektik, Zeitmangel ist die Folge. Eine gut gesetzte Sprechpause kann die Aussage betonen, die Hörer aufmerksam machen (wenn nicht gar aufwecken). Sie ist eine Aufforderung zu reagieren und bindet ein, sie gibt Zeit, in die eigenen Notizen zu schauen, sich kurz zu sammeln, Luft zu holen, Blickkontakt mit dem Publikum aufzunehmen, kurz: alles zu tun, was nicht zuletzt der Zuhörer braucht, um die Rede „verdauen“ zu können.

Man kann auch die eigene Nervosität ausgleichen, indem man sich bewusst für Pausen entscheidet – die vielleicht auf den Vortragskärtchen eingetragen sind oder die entstehen, indem man sich zwingt, Wasser zu trinken. Auch in Gesprächen sind Pausen nötig, um etwa dem anderen die Möglichkeit zu geben zu reagieren. Die Regeln für den Sprecherwechsel (englisch: turn taking) haben wir verinnerlicht: Wir heben die Stimme am Ende unseres Redebeitrags, blicken den anderen an, wir wissen als Zuhörer auch genau, wann wir an der Reihe sind, etwas zu sagen, und meist ist eine kleine Pause dabei. Wir kennen natürlich auch Gespräche, in denen uns andere ständig ins Wort fallen, die Regeln für den Sprecherwechsel ignorieren oder nach eigenem Gusto auslegen – verständlich, wenn es um eine erregte Diskussion geht, in der die Macht hat, wer viel spricht und wer das letzte Wort hat.

Keine Zeit für Pausen

Wir geraten leicht aus dem Takt, wenn unser Gegenüber einem anderen Takt folgt, schneller oder langsamer ist als wir. Zählt eine hohe Geschwindigkeit, ist natürlich auch weniger Zeit für Pausen. Das kann verschiedene Gründe haben, auch kulturelle, und es unterliegt Veränderungen. So hat sich nach einer Untersuchung von Schade-Scherzer das Sprechtempo in deutschen Radionachrichten im vergangenen Jahrhundert erhöht: Gingen in der Zeit von 1933 bis 1945 noch 4,5 Silben pro Sekunde über den Äther, sind es in der Zeit zwischen 1990 und 2001 bereits 5,34 Silben pro Sekunde.[5] Die Betrachtung der Pausendauer ergibt ein ähnliches Bild: Waren es zwischen 1933 und 1945 noch durchschnittlich 0,64 Sekunden, verkürzte sich diese Pausendauer auf 0,44 Sekunden in der Zeit zwischen 1990 und 2001.[6] Noch drastischer ist der Unterschied beim Pausenzeitanteil (17,3 % gegenüber 10,1 %).[7]

Regionale und individuelle Unterschiede

Wir passen unser Sprachverhalten dem unserer Sprecherumgebung an, auch was die Sprechgeschwindigkeit und die Sprechpausen betrifft. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen werden gerne verallgemeinert. Auch hier gibt es regional große Unterschiede, individuell ohnehin. Ein allgemein langsameres Tempo mit größeren Pausen und längerer Reaktionszeit beim Sprecherwechsel scheint eher für Ostdeutsche zuzutreffen, wogegen Westdeutsche schneller sprechen, die Pausen auch lieber mit Text füllen und rascher reagieren.[8]

Das führt bei beiden Seiten zu Frustration: Der forschere Sprechende ist irritiert, wenn der Gesprächspartner nicht in der erwarteten Zeit seinen prosodischen (Stimmführung) und nonverbalen Aufforderungen zum Sprecherwechsel folgt. Möglicherweise meint er dann auch noch, nachlegen zu müssen, wiederholt das letzte Argument mit noch größerem Nachdruck. Der „langsamere“ Gesprächspartner wiederum ist frustriert: Er hat die Aufforderung zum Sprecherwechsel verstanden und setzt zur Antwort an, für die er sich nach eigenen Regeln etwas länger Zeit lassen kann – und wird unterbrochen, weil der andere meint, er müsse weiterreden, weil ja vom Gesprächspartner nichts kommt. Der „Langsamere“ fühlt sich bedrängt, überrumpelt, „zugetextet“. Und bei alle dem geht es nur um Unterschiede in Sekundenbruchteilen!

Jeder der beiden Gesprächspartner meint natürlich, der andere verhält sich falsch. Wie finden wir in solchen Fällen heraus, was die Ursache des Konflikts sein kann? Das Bewusstsein für die vielen verschiedenen Möglichkeiten des Missverstehens zu schärfen ist ein Weg, wie wir aus der Forschung zur interkulturellen Kommunikation wissen. Hinweise und Ratschläge wie die der Deutsch-Finnischen Handelskammer können helfen. Geschäftsleute erhalten hier Tipps für Verhandlungen mit Finnen, so zum Beispiel:

„Ausredenlassen: Bei Geschäftsverhandlungen und Gesprächen gilt es in Finnland als unhöflich, den Redner zu unterbrechen. Statt eines Dialogs oder einer Diskussion kommt es daher häufiger zu einer Abfolge von Monologen, in denen erst nach einer längeren Pause auf die Argumente des Vor- oder sogar Vorvorredners eingegangen wird.“[9]

Vielleicht sollte man „erst nach einer längeren Pause“ unterstreichen? Auch wenn für uns (also jedenfalls für mich) Monologe in einem Gespräch nur sehr schwer auszuhalten sind, längere Pausen quasi unmöglich: Ein solcher Hinweis hilft jedenfalls bei der Frage nach „falsch“ oder „richtig“ und macht sie überflüssig. Wo dies möglich ist, sollten natürlich auch die Positionen ausgetauscht werden: Welche Erwartungen hat die jeweilige Partei und welche Enttäuschungen werden beklagt?

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„Ost-West-Konflikt“ in der Projektarbeit

In dem folgenden Beispiel geht es um eine Gruppe von Studenten (sechs Studenten aus sechs verschiedenen Ländern), die sich mehr oder weniger freiwillig zusammengefunden haben, um ein Projekt durchzuführen (sie fühlten sich „übrig geblieben“, nachdem die anderen Studenten sich rascher in Gruppen zusammengefunden hatten). Die Gruppe war verkracht – oder wohl eher frustriert, denn zu einem offen ausgetragenen Disput kam es nicht. Sie behaupteten, eine Zusammenarbeit oder ein Fortschritt des Projekts sei in dieser Konstellation nicht mehr möglich. Zum „Lernziel“ gehörte in diesem Fall auch, Konflikte nach Möglichkeit selbst zu lösen. Die Situation war daher schon zugespitzt, als sich die Studenten an die Dozentin wandten mit der Klage, so kämen sie nicht weiter, sie wüssten nicht mehr was sie machen sollten.

Auf die Frage, was denn eigentlich los sei, kam die Antwort der zwei Beschwerdeführer: „Wir machen und tun, schlagen vor, ergreifen die Initiative, und von den anderen kommt nichts, gar nichts.“ Klingt bekannt, wenn es um Projektarbeiten geht, und es gibt kaum eine Gruppe, die nicht über die feine Zurückhaltung eines ihrer Mitglieder klagt. Ein anderer Teil der Gruppe behauptete wiederum, sie kämen überhaupt nicht zu Wort, sie würden sich ja gerne einbringen, doch „man“ lege keinen Wert auf ihr Urteil, auf ihre Mitarbeit. Sie seien ebenfalls frustriert, nein, so ginge das nicht weiter, sie würden untergebuttert.

Um festzustellen, was tatsächlich im Gange war, musste jeder nun einzeln aufschreiben, wie sich der Fortschritt der Zusammenarbeit aus der eigenen Sicht gestaltete und welchen eigenen Beitrag zum Gelingen bzw. Scheitern des Projekts er jeweils leistete. Anhand der Einschätzungen stellte sich ein fast klassischer Ost-West-Konflikt dar: Die forscheren Studenten (aus westlichen Industriestaaten – USA, Deutschland) hatten sofort die Initiative übernommen, sie waren die „Macher“, sie füllten jede Lücke (an Zeit, Raum, Sprache) mit ihren Aktivitäten. Selbstverständlich in bester Absicht und in der tiefen Überzeugung, ihr Projekt voranzutreiben, dem man auch in keiner Weise widersprechen konnte. Zwischendurch hätten Sie immer wieder mit einer kurzen Aufforderung versucht, die anderen Studenten (aus östlichen Ländern – Osteuropa, Asien) einzubinden, worauf sie sich spontane und vor allen Dingen rasche Reaktionen gewünscht hätten, genauso wie sie es selbst getan hätten.

Die der mangelnden Kooperation bezichtigten Studenten hatten lange gezögert, diese persönliche Einschätzung zu Papier zu bringen. Sie taten dies erst nach mehrmaliger Aufforderung und nach dem Versprechen, dass dies vertraulich behandelt würde. Sie wären selbstverständlich auf die Vorschläge der ersteren eingegangen, hätten ihnen zugehört und jegliche Kooperation zugesichert. Sie hätten auch angeboten, dieses oder jenes zu übernehmen (nicht einfach Aufträge zu übernehmen, sondern auch selbst Erkundungen einzuziehen, zu recherchieren), doch die anderen (forscheren) seien darüber hinweggegangen, hätten nicht zugehört, sondern einfach agiert. Sie fühlten sich vor den Kopf gestoßen und überrumpelt und da ihre Vorschläge und Beiträge nicht beachtet worden seien, hätten sie sich zunehmend zurückgezogen und die anderen machen lassen. Auf den Tisch zu hauen und Gehör für sich zu fordern sei eben ihre Sache nicht. Das Ergebnis war Frustration, Stagnation und Lähmung auf beiden Seiten.

Ein gemeinsames Gespräch, in dem dieser Unterschied hervorgehoben wurde und in erster Linie die Macher aufgefordert wurden, doch einfach mal zuzuhören, endete mit ratlosen Gesichtern. Das Ende des Projekts war schon gefährlich nahe gerückt. Eine Überraschung war dann der schriftliche Projektbericht, der eine solide Zusammenarbeit der Gruppe vermuten ließ. Noch überraschender war die mündliche Präsentation der Gruppe, in der sie sich alle zusammen ins Zeug warfen und einen konsistenten, engagierten gemeinsamen Vortrag darboten. Mit einer solch überzeugenden Gruppenleistung hatten die Dozenten nicht gerechnet. Auf die Nachfrage, was passiert sei, meinten sie, sie hätten sich um der Note willen eben zusammengerauft. Alle hatten einen kleinen Schritt in die Richtung des anderen getan.

Und als ich mir überlegte, was nun die Moral von der Geschichte sein könnte, fiel mir ein: Manchmal sollte man vielleicht „einfach mal die Klappe halten“! Aber – Google sei Dank – das gibt es doch tatsächlich schon als fertigen Ratgeber![10] Tja, mehr sage ich nicht dazu.

 

[1] Z.B. Saville-Troike, Muriel; Tannen, Deborah (1985). Perspectives on Silence. New Jersey: Norwood
[2] Watzlawick, Paul, Beavin, Janet H., Jackson, Don D. (2011, engl. Ersterscheinung 1967). Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern: Huber, S. 58.
[3] Dixon R. M. W. (1972). The Dyirbal Language of North Queensland (= Cambridge studies in linguistics. 9). Cambridge University Press, Cambridge
[4] Morris, Desmond (1994). The Human Animal Ep. 1 – The Language in the Body, Dokumentarfilm BBC Nature, abgerufen von: https://www.youtube.com/watch?v=7qUKiHZbVwc, ab Minute 18:38.
[5] Scherze-Schade, Sven (2004). Deutsche Radionachrichten: Der Wandel ihres Sprachgebrauchs 1932 – 2001. Dissertation TU Berlin, abgerufen von: https://depositonce.tu-berlin.de/bitstream/11303/1330/1/Dokument_40.pdf, S. 123.
[6] Ebenda, S. 129.
[7] Ebenda, S. 133.
[8] Klein, Olaf Georg (2002). Warum Ostdeutsche und Westdeutsche aneinander vorbeireden. In: Bundeszentrale für politische Bildung (2002). Deutsche Einheit. Abgerufen von: http://www.bpb.de/apuz/26714/warum-ost-und-westdeutsche-aneinander-vorbeireden-?p=all
[9]
Deutsch-Finnische Handelskammer (o.J.): Finnen sind (etwas) anders. abgerufen von: http://www.dfhk.fi/finnland/kulturunterschiede/

[10] Topf, Cornelia (2012) Einfach mal die Klappe halten. Warum Schweigen besser ist als Reden. 4. Auflage. Offenbach: Gabal.

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Über Prof. Dr. Gabriella Maráz 34 Artikel
Gabriella Maráz ist Professorin für Interkulturelles Management und Methodenlehre mit den Schwerpunkten Informations- und Kommunikationspsychologie und Arbeitstechniken.